Der Holger und das Landei
Der Holger hat sich sein Denkergesicht aufgesetzt: es steht ihm gar nicht schlecht, dieses ernste, denkerisch zerfurchte Gesicht, das ein wenig Tristesse ausstrahlt, ein wenig intellektuell versalzenen Pessimismus, dazu das relativierende Getue, das so ganz im Gegensatz zu seiner denkerischen Tiefe steht, dieses gar aufhebt und ins Unernste verkehrt. Schmäh hat er freilich noch lange nicht, aber zumindest ein bisschen Weltschmerz – genug, um dem Mädchen, das ihm gegenübersitzt, eine Nacht lang vorzugaukeln, dass er etwas Besonderes ist, denn das wollen ja alle, nicht nur die Mädchen: einmal einen besonderen Menschen kennenlernen, einmal etwas Spezielles tun, einmal die Zeit übergehen und Bleibendes erleben.
Auch das Mädchen bleibt ihrer Rolle treu: sie gibt das naive, junge Ding. Gerade inskribiert und schon in ein geistiges Gespräch vertieft, das sie weder verstehen noch interessieren muss, das ihr aber sehr wohl die erste studentische Affäre einhandeln könnte – eine Eigenschaft, die sie mit dem Holger teilt. Dieser ist sichtlich nervös und stürzt sich die Biere und den philosophierenden Schädel hinein: Öl für einen stotternden Motor, der über den ersten Gang noch nicht hinausgekommen ist und dennoch bald überhitzen wird. Das naive Mädchen bemerkt diese Nervosität nicht, wohl aber den übermäßigen ‚Zug‘, wie sie es nennt, den der Holger ‚draufhat‘. Also ein Landei auch noch, denke ich vergnügt und frage mich, ob ihre Naivität vielleicht mehr Resultat ihres Naturells als ihrer Rolle ist. Ich für meinen Teil bin ja nicht weniger deplatziert, als es der Holger ist, sage ich zum Kepler, meinen immer treuen Biergenossen, der mich gleich bemerkt und also weiß, was ich meine. Auch er fühle sich hier schon zu alt, aber das Bier sei billig und werde nicht schlechter mit den Jahren. Er hat wie immer Recht.
Während wir gemütlich vor uns hin trinken, zerrinnt dem Holger langsam seine Denkerstirn: das Glänzen seiner erkenntnisgeilen Augen weicht langsam aber sicher einer glänzenden Stirn, die auch dem Mädchen nicht verborgen bleibt. Seine gefasste Haltung schlägt um in grimassiöse Gesichtsausdrücke, während sich seine Hände Entgleisungen aller Art erlauben. Ob diese Schiene der Entgleisung dem Mädchen gefallen wird, sage ich zum Kepler, wird nicht wenig davon abhängen, ob auch ihr Kopf schon eingeweicht ist, oder nicht. Sie selbst scheint unsicher zu sein, lässt sich aber den Körperkontakt zunächst gefallen, was zwar nicht verwunderlich, aber auch nicht gerade Schmackhaftes erahnen lässt. Der Holger, soviel ist jedenfalls klar, hat einen Gang raufgeschalten, fährt aber immer noch sehr hochtourig. Er erklärt dem Mädchen mittlerweile, dass jede Minute des Daseins in einem gewissen Sinn als Gabe, als Gegebenes verstanden werden könne, und dass selbst das schlimmste Unglück in einem eigenartigen Sinn noch ein gewährtes Unglück sei: Der Weltschmerz hat ihn naturgemäß verlassen, er sieht seine Existenz plötzlich als Chance, die er nicht verpassen darf. Dass der Alkohol aus ihm spricht, kommt ihm wohl nicht mehr in den Sinn, dafür aber umso mehr die Einsicht, dass die Chance, die ihm das Schicksal hier offeriert, eine einmalige sei und also der Nützung bedürfe. „Bergauf beschleunigen“, denkt sich der Holger, und will dem Landei einen Kuss auf den Mund drücken. Dabei packt er sich, etwas ungestüm an den Ohren, ganz so, als dürfe sie die Musik im Hintergrund in diesem einen, speziellen Moment nicht hören, sondern lediglich das Rauschen seines in Wallung geratenen Blutes. Kräftig zieht er sie sich entgegen – er hat wohl einmal gelesen, dass das wichtigste im Umgang mit Freuen Selbstbewusstsein und Entschlossenheit seien, und selbstbewusst und entschlossen wird er in diesem Moment durchaus einmal gewesen sein – und spitzt die Lippen so, als wollte er den Kant zitieren, zu einem Trichter zusammen, aus dem der Weltgeist selbst herausflüstert. Dieser so bemüht zärtliche Akt menschlicher Zuneigung wird dabei zu einem krampfhaften Gewaltakt, dessen Durchführung erst durch eine Bierdose verhindert wird, die dem Holger in den Schoß fällt. Das Mädchen, unsicher nach wie vor, ob sie sich freuen soll, dem Kuss entronnen zu sein, oder doch traurig darüber sein sollte, dass die erste Studentenaffäre ins Gerstenwasser gefallen ist, jedenfalls springt auf und marschiert aus dem Raum.
Da sitzt er jetzt, der Holger, mit nassen Hosen und rotem Kopf. Er tut einem natürlich ein bisschen Leid, jetzt, wo er seinen Optimismus wieder eingetauscht hat gegen die Denkerstirn. Versteinert, wie in Bronze gehauen sitzt er da, eine Persiflage auf den Rhodinschen Denker, weil er ja keine heroische Gestalt ist, unser Holger. Aus Mitleid bringe ich ihm ein Bier, dazu ein Vodka-Stamperl und versuche, ihn aufzumuntern. Er allerdings winkt mir abweisend entgegen: dieses Teufelszeug wolle er nicht mehr, er habe ihm abgeschworen und außerdem müsse er morgen wieder lesen und lernen. Er sei naiv gewesen, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen und zu glauben, er könne Spaß haben so wie andere Menschen auch. Er reicht mir die Hand und geht.
Traurig blicke ich dem Holger nach, hätte er doch endlich Fortschritte gemacht, aber so ist wohl auch dieser Zug wieder abgefahren auf jenen Schienen, auf denen er so zukunftsweisend dahergekommen war, so hat er sich doch noch überhitzt, der gute alte Holger, der jetzt meinen wird, ihm habe das Schicksal einen Streich gespielt, wo er doch einfach nur Pech gehabt hat: aber das kann er nicht akzeptieren, der alte Philosoph, diesen unglücklichen Zufall muss er deuten, weil er den Sinn im Unsinn braucht.
Auch das Mädchen bleibt ihrer Rolle treu: sie gibt das naive, junge Ding. Gerade inskribiert und schon in ein geistiges Gespräch vertieft, das sie weder verstehen noch interessieren muss, das ihr aber sehr wohl die erste studentische Affäre einhandeln könnte – eine Eigenschaft, die sie mit dem Holger teilt. Dieser ist sichtlich nervös und stürzt sich die Biere und den philosophierenden Schädel hinein: Öl für einen stotternden Motor, der über den ersten Gang noch nicht hinausgekommen ist und dennoch bald überhitzen wird. Das naive Mädchen bemerkt diese Nervosität nicht, wohl aber den übermäßigen ‚Zug‘, wie sie es nennt, den der Holger ‚draufhat‘. Also ein Landei auch noch, denke ich vergnügt und frage mich, ob ihre Naivität vielleicht mehr Resultat ihres Naturells als ihrer Rolle ist. Ich für meinen Teil bin ja nicht weniger deplatziert, als es der Holger ist, sage ich zum Kepler, meinen immer treuen Biergenossen, der mich gleich bemerkt und also weiß, was ich meine. Auch er fühle sich hier schon zu alt, aber das Bier sei billig und werde nicht schlechter mit den Jahren. Er hat wie immer Recht.
Während wir gemütlich vor uns hin trinken, zerrinnt dem Holger langsam seine Denkerstirn: das Glänzen seiner erkenntnisgeilen Augen weicht langsam aber sicher einer glänzenden Stirn, die auch dem Mädchen nicht verborgen bleibt. Seine gefasste Haltung schlägt um in grimassiöse Gesichtsausdrücke, während sich seine Hände Entgleisungen aller Art erlauben. Ob diese Schiene der Entgleisung dem Mädchen gefallen wird, sage ich zum Kepler, wird nicht wenig davon abhängen, ob auch ihr Kopf schon eingeweicht ist, oder nicht. Sie selbst scheint unsicher zu sein, lässt sich aber den Körperkontakt zunächst gefallen, was zwar nicht verwunderlich, aber auch nicht gerade Schmackhaftes erahnen lässt. Der Holger, soviel ist jedenfalls klar, hat einen Gang raufgeschalten, fährt aber immer noch sehr hochtourig. Er erklärt dem Mädchen mittlerweile, dass jede Minute des Daseins in einem gewissen Sinn als Gabe, als Gegebenes verstanden werden könne, und dass selbst das schlimmste Unglück in einem eigenartigen Sinn noch ein gewährtes Unglück sei: Der Weltschmerz hat ihn naturgemäß verlassen, er sieht seine Existenz plötzlich als Chance, die er nicht verpassen darf. Dass der Alkohol aus ihm spricht, kommt ihm wohl nicht mehr in den Sinn, dafür aber umso mehr die Einsicht, dass die Chance, die ihm das Schicksal hier offeriert, eine einmalige sei und also der Nützung bedürfe. „Bergauf beschleunigen“, denkt sich der Holger, und will dem Landei einen Kuss auf den Mund drücken. Dabei packt er sich, etwas ungestüm an den Ohren, ganz so, als dürfe sie die Musik im Hintergrund in diesem einen, speziellen Moment nicht hören, sondern lediglich das Rauschen seines in Wallung geratenen Blutes. Kräftig zieht er sie sich entgegen – er hat wohl einmal gelesen, dass das wichtigste im Umgang mit Freuen Selbstbewusstsein und Entschlossenheit seien, und selbstbewusst und entschlossen wird er in diesem Moment durchaus einmal gewesen sein – und spitzt die Lippen so, als wollte er den Kant zitieren, zu einem Trichter zusammen, aus dem der Weltgeist selbst herausflüstert. Dieser so bemüht zärtliche Akt menschlicher Zuneigung wird dabei zu einem krampfhaften Gewaltakt, dessen Durchführung erst durch eine Bierdose verhindert wird, die dem Holger in den Schoß fällt. Das Mädchen, unsicher nach wie vor, ob sie sich freuen soll, dem Kuss entronnen zu sein, oder doch traurig darüber sein sollte, dass die erste Studentenaffäre ins Gerstenwasser gefallen ist, jedenfalls springt auf und marschiert aus dem Raum.
Da sitzt er jetzt, der Holger, mit nassen Hosen und rotem Kopf. Er tut einem natürlich ein bisschen Leid, jetzt, wo er seinen Optimismus wieder eingetauscht hat gegen die Denkerstirn. Versteinert, wie in Bronze gehauen sitzt er da, eine Persiflage auf den Rhodinschen Denker, weil er ja keine heroische Gestalt ist, unser Holger. Aus Mitleid bringe ich ihm ein Bier, dazu ein Vodka-Stamperl und versuche, ihn aufzumuntern. Er allerdings winkt mir abweisend entgegen: dieses Teufelszeug wolle er nicht mehr, er habe ihm abgeschworen und außerdem müsse er morgen wieder lesen und lernen. Er sei naiv gewesen, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen und zu glauben, er könne Spaß haben so wie andere Menschen auch. Er reicht mir die Hand und geht.
Traurig blicke ich dem Holger nach, hätte er doch endlich Fortschritte gemacht, aber so ist wohl auch dieser Zug wieder abgefahren auf jenen Schienen, auf denen er so zukunftsweisend dahergekommen war, so hat er sich doch noch überhitzt, der gute alte Holger, der jetzt meinen wird, ihm habe das Schicksal einen Streich gespielt, wo er doch einfach nur Pech gehabt hat: aber das kann er nicht akzeptieren, der alte Philosoph, diesen unglücklichen Zufall muss er deuten, weil er den Sinn im Unsinn braucht.
ledsgo - 11. Okt, 17:45