Keiner, der dich noch erwartet
niemand hat dich hier gesehen
du wartest, bis dein Leben startet
und bis dahin lässt du geschehen.
Bewegen kannst und willst du nichts
was dich berührt ist nicht zu greifen
ein Leben ganz im Sinne des Verzichts
und was dich packt sind Endlosschleifen
Spielen dich ab, in deinem Kopf
wo du zuhause bist, im Denken
verzweifelt suchst du nach dem Knopf
doch eines kannst du nicht: sie lenken.
Tage prallen aneinander wie Regentropfen
sanft und unausweichlich
zerinnen in einen Strom der Vergangenheit
ewig wiederkehrende Momente
und doch unvergleichlich
Sanfte Mechanik bewegt die Gestirne
Bedeutung füllt Gehirne
Ein Gott oder gar viele,
Gefühle sagt man
sind bewegliche Ziele
Lebenskreise schneiden sich
sie suchen ihre Quadratur
aber du siehst nur die Zeiger
und das Ticken deiner Uhr.
Dr. Kent, seinerseits Ordinarius am altehrwürdigen Kingshill College, dessenthalben aber keineswegs eine ordinäre Erscheinung , ist ein Mensch mit habituellen Eigenarten. Angesichts der Tatsache, dass er der Fachwelt nicht lediglich ein Begriff, sondern so etwas wie das schillerndste lebende Aushängeschild seiner Profession darstellt, wird auf universitären Fluren und ebenso in universitären Cafes viel über den alten Mann gemunkelt. Dass er als Mensch mit Liebe zur Systematik gilt, lässt sich nicht nur an seinem Schaffen erblicken. Auch die kursierenden Anekdoten über seine Essens- und Schlafgewohnheiten deuten auf einen Menschen mit Hang zur Akribie. So soll Kents Frau selbst erzählt haben, dass es ihr in 30 Jahren Ehe nicht gelungen sei, ihren Mann auch nur ein einziges Mal zu dessen Befriedigung zuzudecken. Sie wisse wohl, dass sich hinter den Schlafgewohnheiten ihres Mannes eine besondere Form der Bettlakenanordnung verberge; lediglich habe sich ihr das dahintersteckende System, die Ordnung der Laken an sich, noch nie geäußert, die Anordnung der einzelnen Decken, so sagt sie, bleibe unbekannt.
Auch das Essen sei für Kent alles andere als bloße Befriedigung niederer Triebe. Vielmehr, so sagen es die Kollegen, die ihn kennen und das Glück hatten, an seiner Seite zu forschen, sei auch beim Essen ein ordnendes Prinzip oberste Maxime, so dass Kent nicht nur zu festgelegten Zeiten, sondern auch nach einem festgelegten Speiseplan diniere. Er selbst soll, wenn es einmal ganz und gar systemwidrig dazu kam, dass er seine Uhr - denn nur diese zeige die wahre Zeit - zuhause vergaß, auf das Essen ganz verzichtet haben. Auf die Frage, ob er denn in solchen Momenten der chaotischen Verwirrung nicht den stärskten Hunger leide gesagt haben, dass er lieber sterbe, als in der Unordnung des Außergewöhnlichen zu versinken. Nur so lässt sich schließlich auch erklären, dass Kents Speiseplan der wochenzyklischste ist. Nichts würde schließlich die Gewohnheit mehr unterwandern, als zu große Zeitabstände. Eine wahrhafte Gewohnheit - und gerade um solche geht und ging es Kent stets - wiederhole sich zumindest wöchentlich, im besten Fall aber sogar täglich, soll er einmal gesagt haben.
Es darf daher auch nicht verwundern, dass Kent für seine Studiosi durchschaubar war. Nicht nur war nach einigen Semestern klar, wann und wo er anzutreffen sei; nein, auch die Lehrveranstaltungen und mit ihnen die Prüfungen sowie auch deren Fragen, verhielten sich nach einem strikten Muster. Diese Durchschaubarkeit war Kent durchaus bewusst, vielmehr noch war und ist sie ihm erwünscht. Seine Studenten sollten zumindest jene Punkte begreifen, die er immer wieder doziere. Usus est magister optimus, so der Leitspruch Kents, und diesen Leitspruch suche er eben nicht nur im akademischen Bereich tief zu verwurzeln, sondern auch in der praktischen Lebenskunst.
Dieser von der Vernunft so reich beschenkte Zeitgenosse hat die Jahre durchwandert wie eine tibetanische Gebetsmühle. Mit unerschütterlicher Gewissheit ist er der Philosophie als Leuchtfackel vorangeschritten und hat dabei nicht nur sich selbst, sondern auch dem Kingshill College jenen Weltrang eingeräumt, in dem es sich nun sonnt, als sei gleichsam dieses College allein der Ausgang aus Platons Höhle.
Umso erstaunlicher fiel mir dann - selbst weit davon entfernt, die Lehren Kents zu verstehen, nicht einmal sie zu lesen sehe ich mich imstande(!) - ein Schreiben des besagten Dr. Kent, Ordinarius des King Albert's Kingshill College, in die Hände. In ihm nichts geringeres als eine Bewerbung Kents.
Er, Dr. Kent - man würde ihn bei aller walten zu lassenden Bescheidenheit wohl ob seines vorauseilendes Rufes zumindest namentlich, wenngleich nicht inhaltlich, kennen - suche nach einer neuen Herausforderung. Die Umstände in seinem Heimatland würden ihm einen Verbleib angesichts der progressiven Entwicklung der Universitätslandschaft verunmöglichen, sohin er den Wechsel an unsere Bildungsstätte, die Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, erwäge. Im Anhang eine 6-seitige Bibliographie und ein Lebenslauf, indem nicht mehr aufschien als der Maturaabschluss, der Universitätsabschluss und die Berufung zum Professor, allesamt in Kingshill.
Meine erste Reaktion war naturgemäß die des Unglaubens. Kent hier an unserer Universität? Ich hielt das Schreiben zunächst für einen Scherz. Hoffnung aber machte sich dennoch in mir breit. Ein, wenn nicht sogar die Kapazität unserer Tage, gerade sie sollte es nach Wien verschlagen. Gelegentlich spielt das Schicksal Einem in die Karten: unmöglich, so sagte ich mir, sei es nicht, wenngleich unwahrscheinlich, dass er tatsächlich komme. Nichtsdestotrotz lag es nun selbstverständlich an mir, die nötigen Schritte einzuleiten, gerade an mir, einem unbedeutenden Assistenten in Wien, der Kent noch nicht einmal gelesen, geschweige denn verstanden, hat. Sofort griff ich zum Telefonhörer, wählte die Nummer meines Doktorvaters. Auch er gab sich zunächst reserviert. Ob ich mir sicher sei, fragte er, ob ich mir ganz sicher sei. Nun, sagte ich, auch ich könne nicht für die Echtheit der Schrift bürgen, allerdings mache sie einen seriösen Eindruck.
Am nächsten Morgen – die sofortige Erledigung der Angelegenheit würde die bürokratischen Wege hierzulande überstrapazieren – hatte man sich früh verabredet. Nicht nur ich und mein Doktorvater, sondern auch der Dekan persönlich samt einem Schriftbildspezialisten fanden sich in meinem Bürokämmerchen ein, um den Sachverhalt zunächst zu besprechen. Mein Doktorvater hielt dieses Vorgehen für das sicherste: ich solle, sagte er, die Bewerbung keinesfalls mit nachhause nehmen, andernfalls die Verlustgefahr eine zu hohe wäre. Besser wäre es, sie in meinem Schreibtisch zu versperren und morgen früh eine Besprechung folgen zu lassen. Zuerst trafen der Dekan und mein Doktorvater in meiner Kammer ein, beide leicht nervös und begierig, das besagte Dokument in Händen zu halten. Nach kurzer Lektüre befand der Dekan – im Gegensatz zu mir und vielen anderen Philosophen, soll er Kent nicht nur verstanden, sondern auch gelesen haben und deshalb die wahre Bedeutung Kents tatsächlich abschätzen können - , dass es das Beste wäre, zunächst auf den Schriftbildspezialisten zu warten; dieser habe bereits andere handschriftliche Texte Kents, die ohne Zweifel seiner Feder entsprungen waren, zum Abgleich vorbereitet. Es folgte eine bloß kurzer Unterredung zwischen dem Dekan und mir - angesichts der Bewerbung erschien sie uns wohl beiden als der reinste Austausch von Belanglosigkeiten. Danach traf der Experte auch schon ein. Er war ein wortkarger Mensch unscheinbarer Erscheinung, der wohl nicht ohne Grund das Lesen zu seiner Profession erhoben hatte. Wenige Minuten genügten, um die Echtheit der Schrift zu verifizieren. Erstaunt über sein rasches und definitives Urteil musste auch er sich die Frage meines Doktorvaters – ob er sich denn sicher sei – gefallen lassen. Er selbst, so der Schriftbildexperte, halte es ja mit den faktischen, empirischen Wissenschaft. Ihn interessiere nicht die Bedeutung, sondern die Erscheinung eines Textes. Deshalb könne er zu raschen, klaren Ergebnissen kommen, ganz ungleich uns Philosophen also, sagte er und verschwand ohne zu vergessen, seine Honorarnote am Tisch liegen zu lassen.
Der Dekan, der nicht nur Kenner, sondern auch Verfechter der Kent'schen Mortalphilosophie war, wirkte mit einem Mal verstört. Seine Stirn zeichneten tiefe Falten, seine Augen blickten fragend aus ihren Höhlen hervor. Selbst wenn, Selbst wenn, murmelte er mehrere Minuten lang vor sich hin, bis meinem Doktorvater die Geduld entschwand als wäre sich nichts als verbrauchte Luft, die aus den Lungen strömt. Selbst wenn was?, fragte er, sich leicht im Ton vergreifend. Nun, sagte der Dekan. Die Situation sei, wie so oft, eine verzwickte. Man könne einem Ansuchen Dr. Kents nur schwer ablehnen, handle es sich doch beinahe um ein brandoisches Angebot mit Kent als Paten. Aber selbst der Ruf Kents werde wohl nicht über Fakten disponieren können, die gegeben sind. Die finanzielle Situation sei eben denkbar schlecht. Und auch wenn Kents Mortalphilosophie auf Engste mit seiner Moralphilosophie verknüpft sei werde ein Lehrstuhl am Institut für Moralphilosophie erst in 3 Jahren frei; von einem Lehrstuhl für Mortalphilosophie, wie er in Kingshill für Kent eingeführt würde, könne man ja hier ohnehin nur träumen. Kurzum: nichts wäre für die Universität reizvoller, als einen Kent sein eigen nennen zu können, aber so reizvoll dies auch ist, ist es ebenso unfinanzierbar. Man werde das Angebot ablehnen müssen.
Enttäuscht, nicht aber unbedingt überrascht über diese Wendung – freilich wäre eine Berufung Kents hierzulande zu viel des Guten gewesen – fragte ich, ob ich ein Antowrt schreiben aufsetzen solle. Der Dekan und ebenso der Doktorvater aber reagierten gleichermaßen entsetzt. Ob ich noch bei Trost sei, fragte man mich, ob ich mir über den Einfluss Kents im gesamten philosophischen Bereich im Klaren sei? Ihn abzulehnen, ihn offiziell abzulehnen, das sei nichts geringeres als philosophischer Selbstmord! Kent habe schon viel Mitstreiter ruiniert und er werde, so sagten sie, auch uns, auch mich, das ganze Institut ruinieren, wenn man ihn offiziell ablehne! Es müsse ein anderes Vorgehen gewählt werden.
Die Zustände an den Universitäten, soll Kent zu der Zeit seiner Bewerbung immer wieder beklagt haben, seien allerorts die schlimmsten. Man lebe in einer Zeit, in der das höchste Gut selbst – der menschliche Geist – nichts mehr wert sei. Die Formung des Geistes, die Grundlegung menschlichen Verhaltens und die vernünftige Ausarbeitung von Prinzipien desselben habe man eingetauscht gegen ein schnelllebiges System, das nicht auf Wert, sondern auf Verwertung basiere. Er habe sich, soll er seinen Kollegen in Kingshill erzählt haben, nicht zu einem solchen Schritt entschlossen. Ein Entschluss, soll er gesagt haben, setze Alternativen voraus. Diese aber seien ihm nicht mehr gegeben, nicht mehr auf diese Art. Diese Umwälzung universitärer Strukturen hin zu pseudo-akademischen Graden sei geradezu ein Angriff auf die Professorenzunft und müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Schließlich sei er, Kent, aus Kingshill nie herausgekommen und könne ihn, Kent, aus Kingshill auch nichts anderes herausbewegen als der pure Zwang von innen. So wolle er nun nach Wien, in das altehrwürdige Wien, weil dort der Fortschritt schon immer mit Argwohn beäugelt wurde und dieser Argwohn gerade im universitären Bereich nichts anderes als moralisch geboten sei. Das studentische Niveau sei ohnehin ein ständiger Verfall, aber nun anstatt Magister- und Doktorarbeiten jemandem einen Bachelor zu verleihen, das sei die Spitze eines Eisbergs, der er, Kent, nicht mehr erklimmen werde.
Umso überraschender muss für Kent angesichts dieser Anekdoten gewesen sein, dass er gerade nicht nach Wien, sondern in eine kleine Seestadt im österreichischen Innergebirg eingeladen wurde, um dort über seine Stelle zu verhandeln. Der Dekan und, nach einigem Zögern auch mein Doktorvater, kamen nämlich zu dem Schluss, den alten Kent von sich aus zu einem Rückzug zu bewegen. Es sei, so der Dekan, allseits bekannt, dass Dr. Kent kein Freund der Aufruhr war. Dass er aus Königsberg noch nie herausgekommen war, habe guten Gründe: Kent verabscheue Veränderung. Ein Treffen im Innergebirge um die Winterszeit, das würde Dr. Kent, wie der Dekan sagte, das Kraut ausschütten. Nur selten gleitet der Dekan in solche Sprechweisen ab, nur selten, dann aber umso eindringlicher, legt er damit seine bäuerliche Natur offen. Man wolle dem Kent beim Schifahren zur Vernunft bringen, wolle ihm ein Österreich zeigen, das er wieder verlassen muss.
So erreichte Dr. Kent nur wenige Tage nach seinem Ansuchen ein von mir verfasstes Schreiben, in welchem man sich nicht nur erfreut zeige, sein Interesse geweckt zu haben, sondern ihn vielmehr zur alljährlichen Professuralkonferenz im Pinzgauer Innergebirge einlade, um ihm dort die außeruniversitären Gepflogenheiten der österreichischen Professoren näher zu bringen. Selbstverständlich gab es weder eine Professuralkonferenz noch sonstige außeruniversitäre Aktivitäten seitens der hiesigen Professoren, allerdings erhoffte man sich mit diesem Schritt, Kent davon zu überzeugen, hier nicht nur einen einmaligen, sondern einen regelmäßige wiederkehrenden Gebirgsalptraum miterleben zu müssen. Das Pinzgauer Innergebirg erschien hier nicht nur angesichts seiner Dunkelheit, sondern auch der unberechenbaren Schneemenge und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich dort ein akademischer Hotelier befindet, dessen Bekanntschaft man gemacht hat, als der geeignetste Ort für ein solches Treffen. Darüber hinaus war man sicher, im Pinzgauer Innergebirg mit dem hohen Gast kein allzu großes Aufsehen zu erregen, galt doch das Interesse der Bergischen immer schon mehr dem Wetter als den großen Geistern.
So kam es, dass sich Dr. Kent und die „Professuralkonferenz“ inmitten eines eisigen Februars am Fuße eines so genannten Grasberges wiederfanden, um über Dienstverträge und dergleichen mehr zu verhandeln. Die Professuralkonferenz bestand letzten Endes aus dem Dekan, der in seiner tatsächlichen Funktion auftrat, meinem Doktorvater als Vertreter der sonstigen Professoren, mir als Vertreter der zukünfigen Generation und schließlich noch dem Wirten selbst, der sich als Kommerzialrat der Universität und Verwalter der Universitätsgründe im Gebirge ausgab. Genauso, wie es eine Professuralkonferenz nicht gab, gab es freilich auch keinen universitären Kommerzialrat oder sonstige Grundstücke im Besitz der Universität – nicht einmal Interessensvertretungen kannte und kennt die Universität Wien bis heute, aber all das, nun: wie sollte es Dr. Kent erkennen – hier waren eben nicht mehr seine Gewohnheiten zuhause, hier fungierte ein anderer Usus als Magister Optimus, wie Kent bei seinem Eintreffen gleich feststellte.
Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, begab man sich zu Bett. Mit geradezu heimtückischer Absicht hatte der Dekan dem Kent ausdrücklich nur ein Bettlaken zukommen lassen, was der Wirt nur schweren Herzens billigte, wollte er doch seinen guten Ruf bei den Gästen nicht verlieren. Nachdem man ihn aber mit philosophischer Argumentation davon überzeugen konnte, dass Dr. Kent ohnehin kein zukünftiger Kunde sei, weil sein Herauskommen aus Kingshill als absoluter Ausnahmefall gelten müsse, zeigte sich dieser einverstanden und verweigerte Kent vehement, weitere Bettlaken auszuhändigen. Man müsse sich, so der Wirt, im Gebirge und in Österreich überhaupt mit dem Begnügen, was vorhanden sei, und selbst wenn die Höflichkeit und damit ein Ausfluss der Moral selbst gebiete, Kent weitere Decken zukommen zu lassen, so könne dies schon aus empirischen Gründen nicht geschehen, weil es schlichtweg an solchen Decken mangle. Es sei sogar die höchste Form der Unmoral, ihn – Kent – hier gegenüber anderen Gästen zu bevorzugen, müsse doch die Gleichheit aller Menschen als allgemeines Gesetz anerkannt bleiben. Sichtlich zufrieden mit dieser Argumentation, weniger aber mit dem Deckenmangel, fand sich Kent mit seiner Situation ab.
Am nächsten Morgen oblag es mir, Kent in den Tag zu holen. Ein großes Prozedere war hierfür nicht nötig, hatte Kent doch, wie er sagte, ohnedies kein Auge zugemacht. Umso erfrischender würde da die Bergluft wirken, sagte ich und deutete auf ein Paar Schi, die, wie er sogleich verstand, für ihn gedacht waren. Sofort machte sich in den Zügen Kents Unruhe breit. Nicht nur fehle ihm im Schifahren jede Routine, jede Übung, auch halte er das Schifahren an sich für eine höchst unvernünftige Tätigkeit. Der schifahrende Mensch, sagte Kent, sei nichts weniger als entartet, verliere daher jede Vernunft und damit auch jede Würde. Vorbereitet auf solche Einwände entgegnete ich Kent, dass es sich beim Schifahren hierzulande um eine Dienstpflicht handle, weshalb er sich darin werde üben müssen.
Mit jedem Meter, den wir den Berg höher hinaufstiegen, steigerte sich auch das Kentsche Unbehagen. So nahe am Himmel sei der Mensch nicht mehr an seinem Platz sagte er, wenngleich die Aussicht die erhellendste sei. Am Gipfel angelangt nötigte man ihn, einen Gipfelstürmer – ein abscheulicher Schnaps, den der Wirt normalerweise seinen „Stammgästen“ vorbehalt, weil ihn freiwillig ohnehin niemand kauft – zu trinken. Er war tatsächlich bemitleidenswert inmitten dieser intrigären Runde, und doch war sich diese sicher, nicht nur das Richtige, sondern gar das Gebotene zu tun. Eigenartigerweise aber schien der Schnaps eine geradezu wohltuende Wirkung auf Kent, der, wie er sagte, gewöhnlich überhaupt nicht trinke, zu haben. Sein gebetsmühlenartiges Dasein verbiete ihm, dem Alkohol zu fröhnen, aber ebenso, wie er zum ersten Mal aus Kingshill herausgekommen sei, war es wohl auch an der Zeit, aus seinem sonstigen Trott zu auszubrechen. Und so zeichnete sich auf Kents Gesicht, der zeitlebens der größte Verfechter der Vernunft gewesen ist, ein spitzbübisches Lächeln ab, wie es nur Menschen haben, die mit dem größten Tatvorsatz Unvernünftiges tun. Mit jenem spitzbübischen Lächeln hatte sich Kent anschließend die Schier angeschnallt, und nach ein, zwei Probeschwüngen das Wesen des Schilaufens durchschaut. So fuhr er, freilich unbeholfen, aber doch nicht ohne Grazie, den Bergbuckel mit uns hinunter, etwas langsam zwar und mit der Vorsicht eines Denkers, aber alles andere als ungeschickt.
Am Abend aber, die „Professuralkonferenz“ hatte zuvor noch im Geheimen getagt und sich angesichts des vergnügt wirkenden Kents besorgt gezeigt, verlangte Kent zum Essen Bier und Schnaps, ließ sich anschließend sogar noch auf ein Kartenspiel samt Gipfelstürmern mit den Stammgästen ein. Am nächsten Morgen schlief der Kent bis in die Mittagsstunden, sodann machte er sich auf eigenen Faust auf den Weg ins Gebirge. Als wir Kent Stunden später nirgends auffinden konnten, durchsuchten wir sein Zimmer. Es war leergeräumt, nur ein Zettel lag auf dem Bett. Er, Kent, habe kein Interesse mehr an einer Professur, auch nicht an der Philosophie selbst. Er wolle sich nun niederlassen, irgendwo hier im Gebirge, und seinen Lebensabend genießen, fernab von den großen Problemen des Geistes, die immer verschwinden, wenn er den Gipfel stürmt oder Gipfelstürmer trinkt. Er sei nun vielmehr auf dem Gipfel der menschlichen Erkenntnis angelangt und wünsche, nicht mehr gestört zu werden.
Verwundert, aber doch auch zufrieden, reiste die Professuralkonferenz zurück nach Wien. Von Kent aber fehlt bis heute jede Spur. Im Gebirge will man ihn nicht gesehen haben, von den Universitäten hält er sich fern. Was übrig bleibt sind Anekdoten und Geschichten, Gerüchte und Legenden und ein Werk, dessen Gipfel bis heute nicht bestiegen wurde.
Halbdepressiv sitzt du im Auto, hörst das Nachtjournal
um dich nur Dunkelheit, ein trüber Schleier, Winterluft als Dämmmaterial
Gedämpft bist du in dich gekehrt, inwärtsgewandt, sagt man, bist du immerschon gewesen, deine Art zu sein,
sie war der Welt stets wohlbekannt
Nach dem Grund fragst du, deines Unglücks tiefen Gründen
und ahnst schon längst, vielmehr noch, als dir lieb ist
dass sie nicht die deinen sind; heikle Gaben, gleich den mittelalterlichen Kirchenpfründen
Nur gibt es heute keinen Ablass mehr und auch die Sünden
hast du nicht gemacht; so trägst du nun dein Geld zum Psychologen, und außer ihm, dem postmodernen Priester
hat es niemandem etwas gebracht.
Am Land spazierst du, wie du immer tatest, so wie früher, nur damals noch hast du gelacht.
Am See sitzt eine Ente, einsam und kalt, genau wie du
Ob auch sie ein Unglück spürt und falls ja, ob es sie berührt?
Wen interessieren schon Gefühle - die Menschen wie die Enten, sie sollen nicht emfpindsam sein, sondern geschäftig: und so fasst du einen Entschluss zum Tun,
von einer Ente nur bekräftigt.
Die Philosophen - insbesondere die so genannten Empiristen - ergötzen sich gerne an der Einsicht, dass theoreia dereinst bei den Griechen so viel wie "Schau" bedeutet hat. Der Theoretiker war also nicht wie im heutigen Sinn ein Denkender, sondern ein Sehender. Schlägt man anstelle eines Philosophiehiehistorischen Werkes einen Band aus der Sozialgeschichte auf, bemerkt man auch die Ironie dieser ganzen Geschichte: während nämlich im philosophischen Kontext die Denker als ikonenhaft- heroische Figuren gezeichnet werden, finden sich in der Sozialhistorie Darstellungen von sonderbaren und eigenartigen Menschen, von solchen also, die heutzutage der Volksmund gut und gerne "Schauer" nennt.
Die Umstände aber haben sich gewandelt. Der Triumphzug der Theorie, der die Wahrheit im Denken und nicht in der Welt verortet, hat es mit sich gebracht, dass sich langsam aber sicher der Theoretiker nicht mehr für einen schauenden, sondern für einen denkenden Menschen hält. Mit dem Rationalismus ist nicht nur eine Abwendung vom Faktischen einhergegangen, sondern vielmehr eine ganz grundsätzliche Ablehnung jedweder Konkretion. Die "Realität" wird seither mit Argwohn beäugelt - zu Wahrheit führt sie uns nicht, höchstens zu funktionierenden Konkstruktionen.
Diese Überlegung ist aus mindestens drei Gründen verlockend: zunächst einmal erlaubt sie dem Theoretiker Sätze zu produzieren, deren Wahrheit hinter den Dingen liegt, seine Aussagen entziehen sich somit einer faktischen Überprüfbarkeit (eine Strategie also, die längst nicht auf die Religion beschränkt bleibt).
Ferner ist diese Strategie verlockend, weil sie jedem offensteht. Denken, das kann jeder. Es braucht keinen philosophischen Abschluss, um im eigenen Umfeld als schlauer Fuchs zu gelten. Man beobachte nur die Menschen, wie sie diskutieren. Der schlaue Fuchs in der Runde ist immer der, der das unerwartete Argument liefert. Wenn eine Gruppe von Menschen sich über 9/11 unterhält wirkt der Verschwörungstheoretiker schon alleine deshalb als besonders kritisch, weil seine Theorie ein gewisses Maß an allgemeinem Denken erfordert, weil er gewissermaßen das Große Ganze zu fassen vermag - dies tatsächlich auch dann, wenn die übrigen Gesprächsteilnehmer seine Theorie für schwachsinnig halten.
Dies führt uns auch zum dritten - und damit wichtigsten - Anziehungsgrund des Abstrakten: es eröffnet eine Machtposition. Wer mehr weiß als die anderen, genießt ein gewisses Ansehen. Ob der Wissende nun ein Wunderheiler, ein regulärer Arzt oder aber ein besonders belesener Stammtischhocker ist, spielt dabei eine bloß untergeordnete Rolle. Wer seinen Gegenüber davon überzeugen kann, hinter den Fakten das eigentlich Wichtige, die Essenz der Geschehnissen, das Wesen der Dinge zu erfassen, der genießt nicht nur Ansehen, sondern auch Autorität.
Das Faszinierende an dieser Geschichte ist, dass dieses Ansehen und die damit einhergehende Autorität von der Wahrheit des Gesagten völlig losgelöst sein kann. Selbst der größte Unsinn kann für wahr gehalten, selbst der schlimmste Stuss als großer Triumph des Geistes gewertet werden. Und das alles Wissen wir heute schon aus geschichtlichen, faktischen Gründen.
Es ist offenkundig, dass der wohl größte Reiz der so genannten Geisteswissenschaften auf diesen, eigentlich eher primitiven, Fundamenten fußt. Was aber noch faszinierender ist, ist der Umstand, dass dies so selten erkannt wird. Der Theoretiker ist doch, nach heutigem Verständnis, ein denkender Mensch, einer, der sich mit den Waffen der Logik und der Rhetorik der kritischen Reflexion verschrieben hat. Was aber machen nun diese denkenden Menschen, die unvoreingenommenen und kritischen Geister unserer Tage?
Sie sitzen in den Universitäten und schauen in Bücher hinein. Freilich, manche Lesen auch. Aber bestenfalls schauen sie sich dabei die Gedanken eines anderen an, schlimmstenfalls jedoch Glauben sie auch noch, ein Stückchen Wahrheit zu erhaschen. Wahrscheinlich wissen sie von sich selbst weniger als vom Autor des jeweiligen Buches. Und dafür verdienen sie zunächst einmal Nachsicht. Die Naivität, mit der ein Mensch in unseren Breiten an die Hochschulen geschickt wird, ist ihm nämlich regelrecht ins Hirn hineingebrannt. Nicht nur, weil ihm die Schule - zumindest die so genannten Allgemein Höher Bildenden - suggeriert, dass Wissen etwas ganz besonderes sei und die müßige Pflichterfüllung des Schulbetriebs an der Universität ein Ende habe, weil dort nur noch hochinteressierte und hochbegabte Komilitonen ihr Unwensen treiben und keine Pflichten im schulischen Sinn mehr bestehen. Sondern auch, weil ihm Eltern, Umfeld und Gesellschaft selbst einreden, er sei ein ganz besonderer Mensch, ein gebildeter und überdurchschnittlich schlauer, dem die Welt zu füßen liege.
So glaubt der Maturant vor seinen ersten Semestern nicht nur, dass die Universität ein Dürfen, nicht aber ein Müssen, darstelle, sondern er glaubt obendrein auch noch, dass die Universität gerade auf ihn gewartet habe und sich auf der Universität nur Leute seiner Facon finden. Anschließend trifft er auf der Universität auf so genannte Kapazitäten und Kapazunder, die zwar in der echten Welt niemand kennt, deren Wichtigkeit und geistige Größe aber dennoch nicht übersehen werden könne - erst die Nachwelt werde imstande sein, die wahre Größe dieser und jener Lehrpersonen zu erkennen. Und von dieser Faszination der Universität gefesselt, lesen sie und streben sie und schauen in ihre Bücher hinein. Und so mancher wird damit Erfolg haben und selbst zum Kapazunder werden. Je nach Studienrichtung wird ihn sogar die Öffentlichkeit als solchen wahrnehmen. Das muss aber nicht sein. Es kann auch sein, dass die ganze Leserei nur zum Barkeeper in einem Studentenlokal reicht. Dennoch haben sie etwas gemeinsam, der Kapazunder und der Tresenphilosoph: beide halten sich für ungeheuer gescheit und sind auch noch staatlich legitimiert dazu (als ob der Staat Garant dafür stünde zu wissen, was wahr und falsch, gut und schlecht ist; man muss ja tatsächlich dankbar sein dafür, dass er das nicht mehr - oder nur mehr begrenzt - macht, der Staat).
Und dieser Umstand muss bedacht bleiben: wie ein Affe Affe bleibt, bleibt auch ein Schauer Schauer. Darüber kann auch ein Doktortitel nicht hinwegtäuschen. Und für jene Doktoren, die diesen Umstand nicht selber einsehen, ist Nachsicht geboten: sie haben ihre Weltsicht ja nicht verursacht oder gar verschuldet, sie haben sie nur gelebt.
Der Moderne ist ein Mensch, der zwischen den Welten steht. Er lebt vorzugsweise in den Städten, weil er "das Provinzielle" nicht erträgt, weil seine intellektuellen, kulturellen und künstlerischen Interessen in der Provinz nicht befriedigt werden können. Zugleich aber verachtet er innerlich die Stadt und das Städtische, weil es ihm unmenschlich erscheint. Wie die Menschen dort in ihren Brutkästen sitzen und ihre täglichen Perversionen ausbrüten, wie sie ihre Wohnungen zu einem Ort des "Selbst-seins" stilisieren, weil es eben ihr zuhause ist, wie sie zu den boboesken Unterhaltungsveranstaltungen pilgern, um nur ja nichts zu verpassen, all das erträgt der Moderne an der Stadt nicht, aber er hält sie aus, wie er die Provinz ausgehalten hat, als er noch musste. Nur gelegentlich kommt dem Modernen der Gedanke, dass er selbst die Schuld trage für seine Verachtung des einen wie des anderen. Und selbst wenn es gar nicht seine Schuld ist, sondern die einer höheren Macht - sei nun Gehirn oder Gott Zentrum dieser Macht - : wen interessiert das schon, die Schuld? Der Moderne ist kein Strafrichter, das Verschuldensprinzip ist nicht das des Modernen, sondern das Glücksprinzip.
Der Moderne liest aufgeklärte Zeitschriften, er interessiert sich für Kunst, Kultur, die Wissenschaften und Lifestyle; er gestaltet sein Leben nicht, er styled es, wie er sich selbst styled. Er schmückt sich und sein Leben mit Umhängseln, mit Kleidung, mit Leistungen, mit Titeln, Studien, Praktikas, Reisen oder was sonst noch erzählenswert ist in modernen Kreisen.
Der Moderne ist ein vernünftiger Mensch, er folgt guten Gründen; seinen Interessen gibt er nach, wo dafür Platz ist. Deshalb liest der Moderne gerne ein bisschen Literatur - unterhaltsam, aber auch erbauend - oder sieht sich einen Film auf Arte an, aber dabei vernachlässigt er seine Pflichten nicht. Er studiert Dinge wie Architektur, Medienwissenschaft oder soziale Arbeit, weil er etwas Kreatives machen möchte und sich keinen "nine-to-five-Job" vorstellen kann; zugleich aber kann er nicht seinen eigentlichen Interessen nachgehen und gleich Kunstgeschichte studieren, weil auch er von etwas leben muss. Fällt ihm nichts besseres ein, studiert er gelegentlich auch Wirtschaft, obwohl er daran eigentlich kein Interesse hat. Er behauptet dann, eigentlich Geschichte studieren zu wollen und verbringt seine Freizeit damit, schlaue Bücher zu lesen oder Museen zu besuchen. Innerlich glaubt er an die Möglichkeit der "neuen Wirtschaft", an einen alternativen Kapitalismus ohne Wachstumswahnsinn oder an die Maximierung von Freiheit bei gleichzeitiger Minimierung des globalen Leides.
Der Moderne ist um sein moralisches Gewissen bemüht, weshalb er gelegentlich in die Selbstgerechtigkeit abgleitet. Das muss ihm aber ob seiner kindlichen Naivität auch zugestanden und verziehen sein, schließlich meint er die Dinge so, wie er sie sagt und ist auch nicht verlegen, zu einem heiklen Thema Stellung zu beziehen. Die Positionen des Modernen sind mit wissenschaftlichen und progressiven Gründen untermauert, Argumente die auf Tradition oder historischer Begründung aufbauen sieht er mit größter Skepsis, wie er auch den Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung lieber heute als morgen auf das Abstellgleis manövrieren möchte.
Der Moderne ist kritisch, ohne ins Lächerliche zu driften. Er sieht die Dinge wie sie sind, radikales Potential ist ihm fremd, weil er überzeugt ist, dass Veränderung in den Köpfen der Menschen stattfindet.
Der Moderne trinkt gerne Kaffee aus dem Pappbecher und bezahlt gerne ein paar Euro mehr, wenn er dafür hochwertige Qualität bekommt. Überhaupt liegt ihm die Umwelt am Herzen und auch das Wohl der Tiere beschäftigt ihn.
Er glaubt in der Besten aller Welten zu leben und der Welt daher etwas schuldig zu sein. Er vergleicht sich gerne mit Menschen, die vor Jahrhunderten im Elend vor sich hin vegetierten oder mit Menschen, die in fernen Ländern Hunger leiden und glaubt deshalb, glücklich sein zu müssen; dankbar aber ist er nicht, weil es noch viel zu tun gibt.
Im Moment hofft der Moderne auf einen Wahlsieg Barack Obamas in den Staaten, auch wenn ihn das eigentlich nicht interessieren muss und womöglich auch gar nicht interessiert. Der Moderne weiß eben, was zum guten Ton gehört.
Insgesamt ist der Moderne ein Mensch zwischen den Welten, er ist immer einen Schritt vor sich selbst und kann sich doch nicht einholen. Innerhalb seiner Möglichkeiten will er alles, aber nichts so wirklich. Er ist eine uneigentliche Person, ein Mensch, der alles ein bisschen ist. Wie jeder Mensch zu jeder Zeit ist auch der Moderne ein Produkt seiner Umwelt, eine Zerstückelung, die die Einheit, die sie sucht, doch nicht ertragen kann, wenn sie einmal gefunden ist. Aber gerade das macht den Modernen menschlich, eine paradoxe Figur am Bildschirm der Weltgeschichte, ein leises Flackern in High Definition ist der Moderne; eine Figur, genauso tragik-komisches wie die Generationen vor ihm, eine Figur, über die man lachen kann, wenn man dazu imstande ist. Die Selbstironie ist nämlich die schwierigste, sagt man.
"Zum Wohl", brüllt der Totengräber und knallt seinen Bierkrug gegen den meinen, dass es bis in den Berggraben hinein scheppert. Die bergischen Gläser sind wie die bergischen Menschen, denke ich mir, schlicht und ergreifend robuster. Der Totengräber nimmt einen kräftigen Schluck Bier, wie er immer nur kräftige Schlücke nimmt. Das Scheppern des Bierkrugs hallt von den Bergen zurück, und auch das "Zum Wohl" des Totengräbers findet sein Echo nicht nur in uns Mittrinkenden, sondern auch im zurückgeworfenen Schall. Dabei ernten wir verächtliche Blicke: ein Herr mittleren Alters marschiert kopfschüttelnd an uns vorbei, alte Menschen blicken uns brüskiert und empört an.
Die 2 Kisten Bier, die der Totengräber mit seinem Rasenmäher den Bergfriedhof hinaufgeliefert hat, neigen sich ihrem Ende zu. Dabei war es vornehmlich der Totengräber, der getrunken hat. Freilich haben auch der Verwalter und ich, ebenso die übrigen Gemeindebediensteten, die hier und heute anwesend sind, anstandshalber ein paar "Halbe", wie sie am Land das Krügerl nennen, getrunken. Den größten Teil des Vorrats hat sich aber der Totengräber selbst genehmigt, und heute ist es ihm auch nicht zu verübeln.
Der Verwalter wirkt angespannt, nervös. Selbstverständlich kennt man ihn im Dorf, und während der Totengräber eine schlechte Nachrede nicht fürchten muss, weil er erstens nicht im Dorf selber wohnt, und zweitens Totengräber ist, muss der Verwalter diese üble Nachrede umso mehr fürchten, als zusätzlich zu seiner Beamtung auch noch Obmann der freiwilligen Feuerwehr und Gemeinderatsvorsitzender der Freiheitlichen ist. Während der Totengräber also von Professionswegen bestimmter sozialer Verhaltensnormen entbunden scheint, verhält es sich beim Verwalter umgekehrt. Nun aber befindet sich unser Verwalter in einer misslichen Lage, ist er doch direkter Vorgesetzter des Totengräbers und deshalb auch dafür verantwortlich, dass dieser zu seinem Geburtstagsgeschenk kommt. Das Geburtstagsgeschenk - eine Glückwunschtorte mit zahlreichen Kerzen und ein Freifahrtschein für die öffentlichen Verkehrsmittel - an sich wäre nun nicht das Problem. Das Problem ist vielmehr der Ort der Übergabe. Der Totengräber hat sich nämlich nicht darauf einlassen wollen, das Geschenk in der Gemeindestube abzuholen, wie es üblich ist, sondern darauf bestanden, sein Geschenk überbracht zu erhalten. Da der Totengräber nämlich keinen Führerschein und auch kein Auto besitzt, wäre es an ihm gelegen, mit seinem Rasenmäher die Bundesstraße bis zur Gemeindestube hinauffahren zu müssen. Da er aber nun einmal, wie er sich ausdrückte, Totengräber und kein Bauernschädel sei, mache er das sicher nicht. Vielmehr könne er ja wohl erwarten, dass man ihm zu seinem 53. Geburtstag nicht eine Pflicht auch noch auferlegt, indem man ihm solch einen Weg zumutet. Er werde ja wohl noch erwarten dürfen, dass man ihm nach 30 Dienstjahren zumindest seinen blöden Geburtstagskuchen zur Arbeitsstätte bringe.
Daraufhin ist der Verwalter konsequenterweise mit der Anfrage zu mir gekommen, ob in dieser Situation rechtlich etwas zu machen sei. Tatsächlich verhält es sich nun aber so, dass die Forderung des Totengräbers eine legitime ist, schließlich ist niemand zur Annahme eines Geschenkes gezwungen. Ihm andererseits nur angesichts seiner Starrköpfigkeit nichts zu schenken, verbieten die guten Sitten. Und an den exquisiten Fall, dass eine Schenkung gerade auf dem Friedhof stattfinden muss, hat nicht einmal der sonst so aufmerksame Gesetzgeber gedacht. Schließlich haben wir uns deshalb entschieden, zusätzlich zur Geburtstagstorte auch eine Jahreskarte für Bus und Zug mitzuschenken, dass eine solch groteske Situation nicht im nächsten Jahr wieder auftreten muss.
Das ändert freilich nichts daran, dass der Verwalter nun etwas nervös auf den richtigen Augenblick wartet, um seine Torte zu übergeben. Da aber am Friedhof heute eigenartig viele Besucher anzutreffen sind, will dieser sich nicht auftun. Stattdessen trinkt der Totengräber Bier um Bier und erzählt dabei, wie er unlängst versucht hat, seinem Rasenmäher einen Sportauspuff zu montieren und die Benzinzufuhr zu erweitern, das bringe ihm mindestens 10 Km/h zusätzlich, wodurch er am Arbeitsweg einem Moped locker das Wasser reichen könne. Allerdings habe sich die Anreinerschaft beschwert - sein Rasenmäher sei zu laut; kein Zustand für einen Friedhof etc. Er habe deshalb den Auspuff wieder abmontiert; so gesehen, sagt er dann, laufe gerade ihm ja e nichts mehr davon.
Währenddessen tritt der Friedhofsverwalter schon zum wiederholten Male an mich heran und fragt mich, ob nicht ich die Torte übergeben wolle, schließlich sei ich als Wiener weitgehend unbekannt und vermutlich auch nicht auf Dauer hier angestellt. Da aber auch ich die Grenzen des guten Geschmacks nicht unnötig ausreizen will und darüber hinaus keine Verbindung zum Totengräber habe, lehne ich ab, worauf sich der Friedhofsverwalter missmutig auf den Weg zu seinem Auto macht. Ein paar Minuten später taucht er mit Torte und brennenden Kerzen wieder auf. Im Gesicht des Totengräber macht sich ein ausgedehntes, erfreutes Lächeln breit.
Das sei doch nicht nötig gewesen sagt er. Er aber habe im Gegenzug auch etwas für uns, sagt er, marschiert zu seinem Werkzeugschuppen und kommt mit 3 Flaschen Sekt zurück. Er schüttelt dabei die erste Flasche und lässt den Korken knallen, so dass wiederum am ganzen Friedhof die Blicke sich zu uns wenden und das Echo zwischen den Gräbern schallt.
Bei uns angekommen nimmt er einen Schluck aus der Sektflasche, sodass diese halbleer ist. Daraufhin drückt ihm der Verwalter die Torte in die Hand, erleichtert und erbost zugleich. Schließlich verlangt der Totengräber, mit ihm ein Geburtstagslied anzustimmen: Hoch soll er leben solle man ihm singen!
In diesem Moment verliert der Verwalter allerdings vollends die Nerven und fragt den Totengräber, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Man könne doch nicht einfach am Friedhof mit Kuchen und Sekt in Händen "hoch soll er leben" singen. Schließlich stünden hier auch Trauernde und überhaupt sei dies respektlos und frevelhaft so wie er, der Totengräber, eine frevelhafter und respektloser Hund, der seinesgleichen suche. Solch eine Dreistigkeit habe er, der Verwalter, in über 3 Jahrzehnten Dienst noch nicht erlebt und er werde die nötigen Schritte einleiten, um einem solchen Verhalten einen Riegel vorzuschieben. Wir, so richtet er das Wort an mich und die übrigen Gemeindebediensteten, haben unsere Schuldigkeit getan.
Wütend zieht der Verwalter von dannen, uns übrige in seinem Schlepptau. Traurig blickt uns der Totengräber nach, er hätte doch noch so gerne ein wenig mit uns gefeiert, ruft er uns nach. Er sei doch sonst immer so alleine hier draußen. Der Verwalter ist aber nicht mehr aufzuhalten und wir übrigen müssen ihm schon alleine deshalb folgen, weil er das einzige Auto besitzt.
Plötzlich beginnt der Totengräber noch einmal in meine Richtung zu laufen. Er appelliert an mich als geselligen Stadtmenschen: wenigstens ich solle noch auf ein Gläschen bleiben, er könne mich schließlich später mit seinem Rasenmäher nachhause bringen. Ich aber lehne ab, und so muss sich der Totengräber wieder seiner Arbeit widmen. Heute soll er Unkraut rupfen, hat er erzählt. Im Sommer stirbt ihm ja keiner, sagt er. Nur ein ausgesprochener Depp, hat er gesagt, stirbt im Sommer, dafür kommen sie im Winter in Scharen. Kein Wunder, hat er gesagt, er würde auch lieber in tristen Winter sterben als im schönen Sommer, aber als Totengräber ist das freilich ein Mühsal, dass die alle im Winter aufgeben.
Er hätte sicher noch Vieles erzählt heute, denke ich mir im Auto am Rückweg. Vielleicht, so denke ich, ist er gerade deshalb so ein rüpelhafter Kerl, weil er normalerweise nur mit den Toten redet, vielleicht duldet er gerade deshalb keinen Widerspruch, weil er normalerweise keinen bekommt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie gehörten zu der so genannten bildungsfernen Schicht. Eine ungeheure Vorstellung, freilich, aber immerhin eine Denkmöglichkeit. Stellen Sie sich vor, wie weit in der Ferne ein Berg sich auftürmt; er wirkt sogar ganz klein in der Ferne, aber sie wissen doch - nicht aufgrund ihrer Bildung, sondern aufgrund einer angeborenen Fähigkeit, Abstände einzuschätzen - , dass dieser Berg eine enorme Höhe aufweist. Es ist, wie Sie vermuten müssen, der höchste aller Berge, ein unbesteigbares Gebirge, das eine geradezu niederschmetternde Ehrfurcht in Ihnen auslöst. Auf diesem Berg sitzen verstreut die, die der Bildung näher sind als Sie. Die, die auf diesem Berg sitzen, halten sich gerne für eine Gemeinschaft. Deshalb sprechen sie gerne in Kollektivismen oder in Form eines falsch verstandenen Pluralis Majestatis. "Die Intellektuellen", sagen sie, "seien dieser und jener Meinung", oder eben "Wir sind der Ansicht,...", und meinen dabei doch niemanden als sich selbst, attestieren ihrer eigenen unsinnigen Aussage eine Common-Sense Autorität, die dem Plural notwendigerweise anhaftet. Der Charakter einer persönlichen Meinung wird konterkariert durch den Anschein eines gemeinschaftlichen Wissens: so wird doxa zur episteme, wie die Griechen sagen würden.
Mit diesen Waffen - dem Berg der Bildungsnähe, der dem Bildungsfernen notwendigerweise unerklimmbar ist und der Autorität des Kollektivs - gehen sie dann auf andere Menschen los. Sie sind deshalb nicht besser als die Bildungsfernen, denn nichts ist bildungsferner als die Meinung, dass nicht jeder Mensch denselben Wert habe. Nein, besser sind sich nicht, die Bildungsnahen: sie wissen halt mehr! Und weil die Bildung als solche schon eine biegsame Sache ist, sind die Gebildeten zumeist noch viel biegsamer und deshalb biegen sich die Bildungsnahen ihre Welt und ihre Bildung auch gerne in einer Art und Weise zurecht, wie es ihnen passt. Der gute alte Kant hat nicht nur festgestellt, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt sei, das sich nicht gerade biegen lässt (und wenn sich das Holz nicht gerade biegen lässt, muss man freilich die Umwelt rundherum biegen, bis sie auf das Hölzlein passt). Er hat auch gesagt, dass zwar jeder Mensch denselben Wert habe - darin sei die Würde des Menschen begründet, die ihm niemand nehmen könne. Nichtsdestoweniger aber habe nicht jeder Mensch denselben Preis.
Das wiederum gefällt den Bildungsnahen - so können sie sich nämlich die beste aller Welten zusammenschustern: sie können Gutmensch bleiben und jedem Menschen, sei er noch so bildungsfern, seine Würde lassen. Wer sonst schon nix hat, werden sie sich denken, der soll wenigstens eine Würde haben. Am Ende des Tages kann der Bidlungsferne nachhause spazieren, und sich zumindest an seiner Würde erfreuen. Zugleich aber können sie ohne schlechtes Gewissen ihren Preis verlangen, einen Preis, den der Bildungsferne professionsgemäß nicht verlangen kann, weil nur die Würde die allen Menschen gleiche sein muss, nicht aber der Preis.
Und um diese Würde nicht zu verletzen, haben sich die Bildungsnahen in ihrem unerschütterlichen Einsatz für die Bildungsfernen auch einiges einfallen lassen. Während man nämlich früher die Bildungsfernen schlicht und ergreifend als Proletarier, Hackler oder Unterschichtler bezeichnete, ist man sich heute - der Nähe zur Bildung sei Dank - einig, dass eine solche Bezeichnung die Würde des individuums verletze und also diskriminierend sei. Bildungsfern zu sein allerdings, das ist kein Problem. Es macht schließlich nur deutlich, dass die Leute ein bisserl blöder sind als andere, sie wissen halt nichts oder nur wenig. Deshalb sind die Bildungsfernen auch den Tieren ähnlich - man könnte sagen, sie haben etwas hündisches. Sie sind treu und machen das, was ihnen ihre Herren - die Bildungsnäheren - auftragen, manchmal hat ihre Dummheit auch etwas liebes: "ein so ein lieber Depp", denkt sich der Bildungsnahe, "ein Doggerl halt, aber sonst ist er ein netter". So reden sie über die Bildungsfernen, wenn sie unter sich sind. Aber diese Überheblichkeit ist ihnen nicht übel zu nehmen: die Helle der Bildung blendet nicht selten, wenn man ihr zu nahe kommt.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei unserem Gedankenexperiment. Denken Sie noch ein bisschen länger, sie wären in der unmöglichen Situation der Bildungsferne - ich weiß, Sie studieren, Sie sind ein denkender Mensch, ein homo rationalis, Sie kennen die Grundzüge der Volkswirtschaft ebenso wie Kelsens "Reine Rechtslehre", interessieren sich nebenbei für Nietzsche und Castor und bleiben dabei den humanistischen Idealen eines Humboldts ebenso verhaftet wie Sie überzeugter Menschenrechtsaktivist für Afrika sind - aber überlegen Sie noch einen Moment mit mir. Stellen Sie sich vor, wie trotz ihrer Bildungsnähe der Preis nicht mehr stimmt, stellen Sie sich vor wie es wäre, wenn auch Ihnen am Ende des Tages nur noch die Würde übrig bliebe - und meinetwegen ihre nun wertlose Bildung, ja stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn die Bildung nicht wie man Ihnen versichert hat einen Wert an sich darstellen würde (also nicht unabhängig von ihrer Ver-wertbarkeit schon an sich wertvoll wäre). Diese Vorstellung ist für einen Akademiker, der um 1 100,-- Netto 40h+ arbeitet, nicht viel ferner wie für den Bildungsfernen die Bildung selbst. Ist diese Vorstellung nicht, wie der Amerikaner sagen würde, priceless?
Sie können sich nun entscheiden: vor welchem Berg stehen Sie? Sind sie bildungs- oder einkommensfern (übrigens ein Wort, das Bildungs- und Einkommensnahe aus Diskriminierungsgründen erfunden haben)? Oder gar beides?