Freitag, 2. November 2012

Fragmentswelten. Portrait eines Modernen.

Der Moderne ist ein Mensch, der zwischen den Welten steht. Er lebt vorzugsweise in den Städten, weil er "das Provinzielle" nicht erträgt, weil seine intellektuellen, kulturellen und künstlerischen Interessen in der Provinz nicht befriedigt werden können. Zugleich aber verachtet er innerlich die Stadt und das Städtische, weil es ihm unmenschlich erscheint. Wie die Menschen dort in ihren Brutkästen sitzen und ihre täglichen Perversionen ausbrüten, wie sie ihre Wohnungen zu einem Ort des "Selbst-seins" stilisieren, weil es eben ihr zuhause ist, wie sie zu den boboesken Unterhaltungsveranstaltungen pilgern, um nur ja nichts zu verpassen, all das erträgt der Moderne an der Stadt nicht, aber er hält sie aus, wie er die Provinz ausgehalten hat, als er noch musste. Nur gelegentlich kommt dem Modernen der Gedanke, dass er selbst die Schuld trage für seine Verachtung des einen wie des anderen. Und selbst wenn es gar nicht seine Schuld ist, sondern die einer höheren Macht - sei nun Gehirn oder Gott Zentrum dieser Macht - : wen interessiert das schon, die Schuld? Der Moderne ist kein Strafrichter, das Verschuldensprinzip ist nicht das des Modernen, sondern das Glücksprinzip.
Der Moderne liest aufgeklärte Zeitschriften, er interessiert sich für Kunst, Kultur, die Wissenschaften und Lifestyle; er gestaltet sein Leben nicht, er styled es, wie er sich selbst styled. Er schmückt sich und sein Leben mit Umhängseln, mit Kleidung, mit Leistungen, mit Titeln, Studien, Praktikas, Reisen oder was sonst noch erzählenswert ist in modernen Kreisen.
Der Moderne ist ein vernünftiger Mensch, er folgt guten Gründen; seinen Interessen gibt er nach, wo dafür Platz ist. Deshalb liest der Moderne gerne ein bisschen Literatur - unterhaltsam, aber auch erbauend - oder sieht sich einen Film auf Arte an, aber dabei vernachlässigt er seine Pflichten nicht. Er studiert Dinge wie Architektur, Medienwissenschaft oder soziale Arbeit, weil er etwas Kreatives machen möchte und sich keinen "nine-to-five-Job" vorstellen kann; zugleich aber kann er nicht seinen eigentlichen Interessen nachgehen und gleich Kunstgeschichte studieren, weil auch er von etwas leben muss. Fällt ihm nichts besseres ein, studiert er gelegentlich auch Wirtschaft, obwohl er daran eigentlich kein Interesse hat. Er behauptet dann, eigentlich Geschichte studieren zu wollen und verbringt seine Freizeit damit, schlaue Bücher zu lesen oder Museen zu besuchen. Innerlich glaubt er an die Möglichkeit der "neuen Wirtschaft", an einen alternativen Kapitalismus ohne Wachstumswahnsinn oder an die Maximierung von Freiheit bei gleichzeitiger Minimierung des globalen Leides.
Der Moderne ist um sein moralisches Gewissen bemüht, weshalb er gelegentlich in die Selbstgerechtigkeit abgleitet. Das muss ihm aber ob seiner kindlichen Naivität auch zugestanden und verziehen sein, schließlich meint er die Dinge so, wie er sie sagt und ist auch nicht verlegen, zu einem heiklen Thema Stellung zu beziehen. Die Positionen des Modernen sind mit wissenschaftlichen und progressiven Gründen untermauert, Argumente die auf Tradition oder historischer Begründung aufbauen sieht er mit größter Skepsis, wie er auch den Nationalstaat in Zeiten der Globalisierung lieber heute als morgen auf das Abstellgleis manövrieren möchte.
Der Moderne ist kritisch, ohne ins Lächerliche zu driften. Er sieht die Dinge wie sie sind, radikales Potential ist ihm fremd, weil er überzeugt ist, dass Veränderung in den Köpfen der Menschen stattfindet.
Der Moderne trinkt gerne Kaffee aus dem Pappbecher und bezahlt gerne ein paar Euro mehr, wenn er dafür hochwertige Qualität bekommt. Überhaupt liegt ihm die Umwelt am Herzen und auch das Wohl der Tiere beschäftigt ihn.
Er glaubt in der Besten aller Welten zu leben und der Welt daher etwas schuldig zu sein. Er vergleicht sich gerne mit Menschen, die vor Jahrhunderten im Elend vor sich hin vegetierten oder mit Menschen, die in fernen Ländern Hunger leiden und glaubt deshalb, glücklich sein zu müssen; dankbar aber ist er nicht, weil es noch viel zu tun gibt.
Im Moment hofft der Moderne auf einen Wahlsieg Barack Obamas in den Staaten, auch wenn ihn das eigentlich nicht interessieren muss und womöglich auch gar nicht interessiert. Der Moderne weiß eben, was zum guten Ton gehört.
Insgesamt ist der Moderne ein Mensch zwischen den Welten, er ist immer einen Schritt vor sich selbst und kann sich doch nicht einholen. Innerhalb seiner Möglichkeiten will er alles, aber nichts so wirklich. Er ist eine uneigentliche Person, ein Mensch, der alles ein bisschen ist. Wie jeder Mensch zu jeder Zeit ist auch der Moderne ein Produkt seiner Umwelt, eine Zerstückelung, die die Einheit, die sie sucht, doch nicht ertragen kann, wenn sie einmal gefunden ist. Aber gerade das macht den Modernen menschlich, eine paradoxe Figur am Bildschirm der Weltgeschichte, ein leises Flackern in High Definition ist der Moderne; eine Figur, genauso tragik-komisches wie die Generationen vor ihm, eine Figur, über die man lachen kann, wenn man dazu imstande ist. Die Selbstironie ist nämlich die schwierigste, sagt man.

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