Dienstag, 24. Juli 2012

In der Fusch

Verlegen blinzelst du hinunter in die Tiefe der Felsen, eine Kerbe, ein Riss in deiner Welt. Zwischen den Felsspalten sprudelt Wasser hervor, klares Quellwasser, das sich zu einem sanften Strome entwickelt und ebenso gemächlich wie urmächtig die Senke deines Tales hinausfließt, wo es sich schließlich in die unendlichen Adern dieser Erde einfügt und jede Grenze, jede Kontur verliert.

Dein verlegener Blick aber ruht nicht auf diesem Fluss. Etwas nervös zieht es ihn immer wieder auf die halbfertige Verlegenheitsbrücke, die sie nie fertiggebaut haben. Sie bröckelt schon ein wenig, die Stahlbetonbrücke, die neben den wenigen grauen Flecken der Felsen - die im wesentlichen vom feuchten Moos eingedeckt vor sich hin schlummern - das einzig Farblose in dieser Gegend ist. Sie stammt noch aus einer Zeit des Überflusses, man hatte sie nie gebraucht, diese Brücke, aber nichtsdestotrotz wollte man sie haben.

Dann kehrst du ihr den Rücken zu, dieser Halbherzigkeit, diesem Allerweltsbauwerk, das plötzlich nicht mehr finanziert hatte werden können. Finanzkrise sagst du dir, kopfschüttelnd und zynisch lachend. Du kehrst ihr also den Rücken zu und schaust den Berg hinauf, schaust in die braune Schneise hinein, die sie aus dem Berg gerissen haben, schaust auf den Haufen kahlrasierter Baumstämme, die am Fuß des Berges liegen wie feucht gewordene Zundhölzer, die niemand mehr braucht. In der Schneise ruht der Schilift, wie in all den anderen unzähligen Schneisen, die sie in den Berg geschlagen haben, auch Schilifte ruhen, Lifte, die keiner mehr benützt, halbfertig manche, andere hoffnungslos veraltet.

Sie haben dir den Berg in den Lift hineingebaut, den Fluss in die Brücke, und du, Fremder, du fragst die zuständigen Männer um dich, ob denn all das not tue, aber ihre Antwort ist dir gleichgültig. Deine Verwunderung ist groß, aber du weißt wohl, dass deine Blicke dir nichts zeigen, das je notwendig gewesen wäre. Gebraucht hat man hier immer erst, nachdem die Gier geweckt war. Notwendigkeit, das war hier seit jeher eine Kategorie des Wollens, was notwendig war, wurde hier, ungleich so vieler Orte, immer noch entschieden.

Du musterst sie also, die biertrinkenden Bauern, die gierigen Mäuler deines Heimatdorfes, die dir so unbekannt sind. Irgendeine Antwort werden sie dir schon entgegen nuscheln, aber du verstehst sie doch nicht mehr, diese Menschen, und sie blicken dich misstrauisch an, wie sie die Anderen immer misstrauisch angeblickt haben, als du noch ein Kind, noch einer von ihnen warst.

Du starrst auf den Boden, das Bier in deiner Hand will dir nicht schmecken. Die Überheblichkeit deiner Ahnherren ist ihnen aus dem Gesicht geschwemmt wie der letzte Glanz aus dem Fluss geschwemmt ist, ihr Maulheldentum hat ein Ende gefunden, weil ihnen, wie sie sagen, keiner mehr kommt.

Niemand kann oder will mehr zu ihnen fahren, wem gefällt schon diese ewige Unfertigkeit, dieses ewige Bauwerk, von dem sie einst glaubten, sie könnten es für immer weiterführen? Expansion dachten sie, mehr mit ihrem Bauch als ihrem Hirn, und verstanden nicht, dass auch die dickste Mauer rissig wird, und auch der dümmste Tourist irgendwann merkt, dass die scheinbare Natur eine Tourismusfabrik ist. Und wie jede Fabrik wird auch diese geschlossen, wenn es kein Geld mehr gibt.

Und jetzt stehen sie da, die Maulhelden deiner Jugend, und trinken ihr Bier wie sie es damals taten, aber es hört ihnen keiner mehr zu. Und du stehst da, verlassen und schockiert, von einer umgekehrten Logik heimgesucht:
Nein, nicht du hast dich verändert in deiner Abwesenheit. Deine Heimat selbst ist dir fremd geworden, man hat sie dir umgebaut und jetzt stehst du vor ihr, der gealterten, der zusammengeflickten und zusammengeschusterten Heimatstadt, der Stadt deiner Eltern und nicht einmal mehr diese, deine Stadt ist noch da. Nicht nur deine Eltern, auch deine Stadt ist vergangen.

Und du alter Mitläufer, du hast geglaubt, du könntest wie sie wieder nachhause gehen, du hast geglaubt, auch dir würde diese Unaufrichtigkeit gelingen, wieder nachhause zu gehen als wäre nichts passiert, als hätte man sie dir nicht genommen, deine Heimat. Und so stehst du da, entsetzt, verloren und einsam - so, wie sie dich ausgespuckt hat, deine lächerliche Ländlichkeit.

Mittwoch, 11. Juli 2012

Alltägliches vom Bergfriedhof. Aufzeichnungen des Staatsbediensteten K. Eine Kollage aus Bernhard umd Kafka zur Sommerfrische.

Die Menschen, insbesondere die so genannten Bergmenschen, sprechen nicht gerne von Friedhöfen. Die friedhöfische Ruhe, der – wie die Philosophen sagen würden – Endgültigkeitscharakter eines Friedhofs, ist ihnen nicht geheuer. Deshalb bauen sie ihre Friedhöfe auch in den Berg hinein. Nicht auf eine ebene Fläche, sondern auf einen Abhang verfrachten sie ihre Toten, damit man selbst am Friedhof nicht nur in die Grabsteine und Grabstätten, in die Urnen und Kruzifixe hineinschaut, sondern dass man auch am Friedhof gleichsam über diesen hinausschauen kann, ein Licht am Ende des Tunnels sozusagen ist solch ein Bergfriedhof, erlaubt er einem doch das Wegsehen wie kein Friedhof der Tiefebene es jemals könnte. Es ist somit der bergischen Natur gemäß auch kein Zufall, dass der Weihenpriester nicht am oberen, sondern am unteren Ende des Bergfriedhofs seine Messe liest, ist man doch so gezwungen, über den Friedhof hinaus zu blicken.
Läse er hingegen die Messe von oben herab, hätte dies freilich etwas Christliches. Der Hirte über seinen Lämmern. Aber die Lämmer, zumal jene, deren Platzierung am Friedhof die tiefste ist, müssten dann die ganze Ruhestätte überblicken und also erkennen, wie zugepflastert ein Bergfriedhof der beschriebenen Art ist. Und dabei ist die allerorts einsetzende Verstädterung dem Bergmenschen als solche schon eine Zumutung, von der Verstädterung seines Friedhofes will der Bergmensch aber freilich überhaupt nichts wissen.

Wer schon einmal einen Stadtfriedhof begutachtet hat, wird sich einer Einsicht nicht verschließen können, die dem Bergmenschen die unnatürlichste ist: die Einsicht nämlich, dass das Leben eine Banalität darstellt – eine schöne Banalität für die Einen wohlgemerkt, und eine schreckliche für andere. Dennoch kann sich der Städter, wenn er über zwei Stunden hinweg den Wiener Zentralfriedhof abwandert und dabei die Massen an Grabstätten begutachtet, der das Diesseits relativierenden Todeseinsicht nicht mehr entledigen. Die jüdischen Gräber zum Beispiel, bei denen der wilde Wein und sonstiges botanisches Gewächs droht die Grabsteine zu überwuchern, sind hierfür ein ebenso schönes wie trauriges Zeugnis: die Vergessenheit ganzer Generationen steht hier versinnbildlicht, selbst die letzte Andacht wird hier im tatsächlichsten Sinne vom Erdboden verschluckt. Freilich: eine Gesellschaft vergisst gerne die, die sie nie haben wollte, aber das ändert doch nichts an der Kraft des Bildes. Auch der Friedhof der Namenlosen ist hierfür ein schönes Beispiel: dass selbst die Toten noch vergessen werden können, dass irgendwann selbst die Andacht an eine Person verschwindet, ist ein Gedanke, der dem Bergmensch völlig fremd erscheinen muss, sind doch die Berggräber stets gepflegt. Nicht aber, weil hier am Lande die Toten nicht vergessen werden, sondern weil die vergessenen Toten keinen Platz mehr haben, um am Bergfriedhof zu verweilen. Verwilderte Gräber gibt es hier ebenso wenig, wie es Gräber für Unbekannte gibt.

Vielleicht nimmt sich gerade deshalb der Bergmensch so ernst, vielleicht hält er sich gerade deshalb für besonders wichtig, weil er ständig im Glauben vor sich hin eilt, überhaupt nie vergessen zu werden. Wer aber überhaupt nie vergessen werden wird (wie alles andere ist ja auch das Vergessen-werden ein Prozess), der muss sich besonders bemühen, ein gutes Leben zu führen, der muss einer sein, an den man sich nicht nur erinnert, sondern einer, an den man sich auch noch gerne erinnert. Selbstverständlich gibt es auch in Städten Wichtigtuer und Menschen, die den Ernst des Lebens sehr viel ernster nehmen, als dieser in Wirklichkeit ist. Aber dem ländlichen Wichtigtuer kann der Städter nicht das Wasser reichen, selbst dann nicht, wenn es den Ländischen ins Städtische zieht, und wer kann es dem Landmenschen verübeln, hat er doch die heilsame und beruhigende Selbstnivellierung des Städtischen niemals erlebt.

Eine ebenso heilsame Einsicht böte sich vielen Menschen, würden sie auch ohne Zwang den Friedhof besuchen. Wer den Friedhof nur vom Zeremoniell her kennt, kennt einen bloß artifiziellen Friedhof. So wie eine Kirche rasch ihre Ehrfurcht verliert, wenn sie sich anstelle von einer fürbittenden Christenschar mit fotografierwütigen Japanern füllt, verliert auch der Friedhof seinen Ernst, wenn man ihn zu Tagesstunden aufsucht, die nicht vom Ritus durchtränkt sind. In solchen Stunden zeigt sich, wie auch am Friedhof das Leben weitergeht. Wer wie der Friedhofswärter, in dessen Begleitung ich durch die engen Gassen des Bergfriedhofs spaziere, geschäftsmäßig hier sein Unwesen treibt, kann hiervon freilich Lieder singen.

Der Friedhofswärter und ich sind dabei in unerfreulicher Mission unterwegs: wer rügt schon gerne einen Totengräber? Einem Totengräber eine Rüge zu erteilen, ihm gleichsam eine so genannte Verwaltungspönale aufzuerlegen, das ist, wenn man so will, die tiefste Form der Gemeinheit. Einen von Professionswegen her schon gestraften aufgrund eben dieser Profession noch einmal zu strafen, ist zwar eine notwendige, aber dennoch verabscheuenswürdige Praxis. Und da die Friedhofsverwaltung eine Kompetenz der Gemeindeautonomie ist, der Gemeindejurist allerdings schon seit Monaten aufgrund psychischer Probleme im Krankenstand verweilt, hat mich die Hoheitsverwaltung hier zur rechtlichen Vertretung eingesetzt, schließlich muss jede Form der Verwaltung – auch die friedhöfische – dem Recht gehorchen und was nützt einem da das Mitleid mit dem Totengräber, wenn gegen diesen Disziplinarverfahren eingeleitet sind? Das Recht rangiert eben über den guten Sitten, und wenn es auch sittenwidrig erscheint, einen Totengräber auch noch abzustrafen, so ist es dennoch ein Obligation, die nicht vernachlässigt werden darf.

Warum sie hierfür ausgerechnet auf einen Wiener wie mich zurückgreifen, ist dabei freilich fragwürdig. Andererseits aber war mir ein Sommer am Land keine ungelegene Abwechslung, weshalb ein solches Angebot – zumal gut bezahlte Fahrtkostenzuschüsse ebenso versprochen wurden wie ein höheres Entgelt – meinerseits gerne angenommen ward.
Der Friedhofsverwalter – ein junger Mann von höherer technischer Ausbildung – hatte mich nun vor einigen Tagen gebeten ihn zu begleiten, da ihn bzw. seine disziplinarischen Verwarnungen der Totengräber „ohne rechtlichen Nachdruck ohnehin nicht ernst“ nehme. Ich solle deshalb seiner Mahnung die nötige rechtliche Schärfe verleihen, ansonsten der Totengräber sein verhalten nicht ändere. Nicht, weil mich Streitigkeiten dieser Art interessieren würden und auch nicht, weil sie in meine Zuständigkeit als Gemeindejuristenvertretung fallen würden, nein, aus persönlicher Zugeneigtheit und Neugierde habe ich dem Friedhofsverwalter zu diesem Vorhaben zugestimmt.

So wandern der Verwalter und ich durch die engen Wege des Bergfriedhofs. Hier am Lande – das fällt bereits nach kurzem Aufenthalt ins Ohr - sagt man sich gerne, dass die Fremden, die Urlauber, einem die „Luft zum Schnaufen“ wegnehmen würden, dass sie selbst den letzten Platz der umliegenden Ortschaften aufsaugten wie Schwämme das Quellwasser. Wie so oft aber zeigt gerade der Friedhof die Unrichtigkeit einer solchen Behauptung, sind es doch letztlich die Einheimischen selbst, die sich hier einengen. Selbst im Tode scheint sich hier der Kampf um den eigenen Platz fortzusetzen, weshalb, wie der Verwalter sagt, nichts nötiger sei als ein funktionierender Totengräber. Der Friedhof bedürfe mehr als vieles andere in dieser Gemeinde einer ständigen Wartung und Pflege, da er ansonsten dem Untergang geweiht sei. Ein solcherart untergehender Friedhof aber sei, wie der Verwalter meint, geradewegs ein Kniefall vor der allerorts einsetzenden Anarchie, der nur eine ebenso effiziente wie schlanke Verwaltungsarbeit Einhalt gebieten könne. Deshalb müsse auch die Verwaltung auf effizientes Personal zurückgreifen, da die Wartung des Friedhofes ein saufender Totengräber nur schwer zustande bringen könne, weshalb es nun an ihm dem Verwalter sei, dem Totengräber die elende Sauferei auszutreiben, oder aber taugliches Ersatzpersonal ausfindig zu machen.
Bislang kannte ich den Totengräber nur vom Hörensagen. Er sei ein imposanter, mächtiger Mensch von beträchtlicher Größe. Als aber nun plötzlich der Rasenmäher anrollt, auf dem der Totengräber sitzt, bemerke ich, dass dies eine Untertreibung darstellt. Nicht nur der Rasenmäher selbst – nicht selten eckt er an einem der Gräber, deren Umrandung er von Gras und Unkraut befreien soll, an – sondern auch und vor allem der Totengräber darauf, passen nicht zur Friedhofslitanei, sondern ähneln eher einem steirischen Apfelbauern, der seinen Apfelhain bewirtschaftet. Da ich als Wiener das Steiermärkische, „das grüne Herz Österreichs“, wie man sagt, nur all zu gut kenne, fühle ich mich in dem Moment, in dem der Totengräber von seinem Rasenmäher steigt und seinen wankenden Mostkopf in unsere Richtung neigt, in meine Jugend zurückversetzt, in der ich nicht selten von meinen Eltern gezwungen wurde, zur Landfrische ins Steirische zu fahren. Die Lagerhausbauern der Steiermark und der Totengräber vom Bergfriedhof sehen nicht nur aus, als wären sie vom selben Schlag, sie verhalten sich auch noch so. Nicht nur der beissende Weingeruch, auch die grünen Latzhosen und das Lagerhaus-Kapperl sind hierfür Indiz und Beweis gleichermaßen.

Ich stelle es mir schwierig vor, sage ich dem Friedhofsverwalter, mit solch einem riesigen Rasenmäher durch die engen Gassen des Friedhofs zu fahren. „Der Suff macht es nicht leichter“, murmelt dieser zurück. Eigenartigerweise beschränkt sich aber das Wanken des Totengräbers auf dessen überdimensionalen Kopf: während die Spur, die er durch die Friedhofsgassen zieht, die geradlinigste ist, wankt sein roter Kopf von Schulter zu Schulter. Wie es Art der Trinkenden ist bemüht sich auch der Totengräber die letzten paar Meter, bevor er uns begrüßt, besonders frisch auszusehen: mit weit aufgerissenen Augen und übermäßigem Augenkontakt starrt er abwechselnd den Verwalter und mich an, als hätte ihn unser Besuch aufs Panischste erschreckt. Schließlich schüttelt er meine Kanzlistenhand mit einer Kraft, die nicht einmal mehr Bergmenschen natürlich erscheinen kann. Wo der Schuh drücke, fragt der Totengräber. Er habe es nämlich eilig, müsse er doch noch die Überreste einer Gruppe von Alpinisten vergraben.

Nun, der Totengräber ist das Direkte gewohnt, denke ich mir. Wer davon spricht, die Überreste einer Gruppe zu verscharren, dem muss man nichts vorenthalten, und so sage ich ihm, dass sein Alkoholismus nicht nur inakzeptabel, sondern auch ein Kündigungsgrund sei. Da lacht der Totengräber. Nickend bekräftigt der Verwalter, dass er einen Menschen brauche, auf den er sich verlassen könne. Wer denn, wenn nicht der Totengräber selbst wisse um die Schwierigkeit der Instandhaltung eines Bergfriedhofes. Es könne nun einmal nicht angehen, dass ständig im Anschluss an Beerdigungen Beschwerden bei der Gemeinde eintreffen, die sich über einen angetrunkenen, darüber hinaus noch „bestens gelaunten“ Totengräber mokieren, während der Trauerzug die Grabstätte aufsuche.
„Schauen Sie“, sagt da der Totengräber: „vor miraus könnens die Toten auch selber eingraben. Aber solang ich die Arbeit mach- und außer mir machts ja keiner- lass ich mir nix zu schulden kommen.“ Schließlich habe er noch für einen jeden sein Platzerl gefunden, und Grabstein sei ihm auch noch keiner umgekippt. „Da könnens mir mein Flascherl Wein doch nicht verübeln?“ Daraufhin zieht der Latzbehoste – durchaus unbeeindruckt – von dannen. Und tatsächlich denke ich mir, während auch der Verwalter und ich wortlos das Weite suchen, was nützt einem das Recht am Friedhof, was hilft einem der Staat beim Sterben? Die Toten nämlich interessiert der Friedhof nicht, immer nur die Lebenden. Und wenn man ihn betrachtet, wie der Totengräber ihn betrachten muss, nämlich als Arbeitsplatz, nun, was soll man ihm denn vorwerfen?

Freitag, 15. Juni 2012

Eine Rundschau.

Aus dem Radio singt mir ein Deutscher ins Ohr, er müsse nur noch schnell die Welt retten. Danach, so verspricht er mir, ist er wieder bei mir. Ich glaube nicht, dass er gerade mich anspricht, aber das lyrische Du, das er besingt, lässt auf jeden Fall Raum für diese Phantasie.
Insgeheim aber bin ich froh, dass der deutsche Weltretter nicht zu mir singt. Aber überhaupt und ganz allgemein scheint das Thema der Weltrettung zur Zeit in Mode. Während nämlich der Deutsche (sein Name übringes: Tim Bendzko - würde namentlich auch gut zwischen Toni Kroos und Mario Götze passen) von der Weltrettung singt, glauben andere, die Welt vor den Deutschen retten zu müssen, während die Deutschen wiederum glauben, Europa vor sich selbst retten zu müssen, was wiederum einer Weltrettung gleichkäme, weil doch ein Niedergang Europas die Weltwirtschaft mit in den Abgrund ziehe.
Jedenfalls meint ein sichtlich angefressener Barack Obama, dass die Rettung der westlichen Welt in den Händen Deutschlands liege. Deutschland müsse, wie Amerika 2008, endlich etwas Substanzielles gegen die Eurokrise tun. Das Amerikanische daran ist die Superlative: etwas "Echtes", das ist für Amerika immer nur etwas Großes. Es nütze nichts, den Euroraum strukturell oder politisch zu ändern: man solle einfach einen riesigen Haufen an Geld in die Märkte schmeissen. Donn wird's scho wieda wean, gö, denkt sich da der Weißbierbayer.

Die Amerikaner sind seit jeher ein freches Völkchen, die ihre Cowboynasen nur allzu gerne über große Teiche Richtung Ost und West in Angelegenheiten stecken, die sie, wenn überhaupt, nur mittelbar etwas angehen. Und darüber hinaus haben diese Amerikaner immer schon eine Affinität zum absolut Großen gehabt: so wie sie mit großen Schulden umgehen, nämlich durch das Anhäufen noch viel größerer Schulden, gingen sie auch schon im Krieg vor: auf große Verlustzahlen reagiert man mit noch mehr Soldaten, auf hohe Opferzahlen mit noch mehr Offensive - ob das nun der Vietnamkrieg ist oder Afghanistan, vom Rückzug oder vom Schritt zurück, vom "Weniger ist Mehr" haben die Amerikaner noch nie etwas gehört, oder haben sie schon einmal einen dicken Amerikaner gesehen, der nur eine kleine Cola trinkt? Nein - er nimmt sich die 2 Liter Cola-Light-Version.

Dagegen aber wehrt sich Frau Merkel vehement. Sie hat ihre eigene - urdeutsche - Problemlösung. Sie will das Problem der Eurostaaten an der Wurzel packen: weitere Schulden ja, aber nur wenn vorher eine Strukturreform vor allem in Südeuropa durchgeführt werde. Diese Lösung ist weniger pragmatisch als vielmehr systematisch - sie ist durchdacht, klug und auch wohl auch notwendig. Aber sie ist ebenso langsam und kompliziert. Jedenfalls steht dem amerikanischen Größenwahnsinn der deutsche Hang zum Systematisieren gegenüber - während drüben mit ein paar Eiern in der Hose Politik gemacht wird, versucht man hier die Probleme auf ihren Grund hin zu befragen, während drüben das Jetzt zählt, denkt man hier ans Übermorgen.

Es ist interessant, wenn bedacht wird, wie sehr sich hier die Geistesgeschichte wiederspiegelt, wie sehr hier der Deutsche - wenn mit solchen Klischees überhaupt gearbeitet werden darf - von der Erkenntnis, dem Imperativ des Richtigen und Wahren getrieben ist und wie sehr, auf der anderen Seite, der Amerikanismus von pragmatischen Zügen beflügelt wird. Hier steht Eigentlichkeit bloßem Funktionalismus gegenüber und es ist kein Zufall, das ersterer Begriff deutschen, zweiterer hingegen angelsächsischen Ursprungs ist.
Ob letztlich der Amerikaner die Deutschen und den Rest Europas vor sich selbst retten kann und der Deutsche jede praktikable Lösung zunichte denkt, oder aber vielleicht doch systematische Veränderung und zielgerichtete Intervention - alles im richtigen Ausmaß, nicht zu viel und nicht zu wenig, versteht sich - der richtige Weg ist, wird sich freilich erst herausstellen. Denn freilich braucht man beides: die Fähigkeit, schnell und pragmatisch zu reagieren und die Fähigkeit, nicht alles zu Tode zu denken ebenso, wie einen überlegten Zugang zur Problemlösung. Nur draufhauen, ohne jedes System, das ist halt dann zu wenig - wie auch die holländische Nationalelf beweist. Das war im Wesentlichen amerikanisch, was die zeigten: offensiv bis zum Tor stark, aber letzlich zu wenig Plan und zu viel Selbstvertrauen, zu viel "Wir machen das schon". Ein schnörkeliges und reichlich unkluges Spiel, gegen das die Deutschen mit ein paar einfachen Spielzügen relativ leicht obsiegen konnten. Aber so ist das eben auf der Welt: was richtig und was falsch ist, weiß man immer erst im Nachhinein.
Und bis dahin hört man Radio. Oder schaut Fußball. Das ist das Eigenartige, das Absurd-Banale an der Weltgeschichte: interessant ist sie immer erst retrospektiv. Ich glaube, im Kalten Krieg hat sich niemand für diesen interessiert, wie auch heute die Wirtschaftskrise an einem vorbeischwirrt, als wäre sie nichts echtes, sondern ein bloßes Artikelchen hier und ein Aufsätzchen dort. Aber in 50 Jahren wird im Schulbuch der Geschichte etwas davon stehen und man wird die Zeit, in der wir gerade jetzt leben durchforschen und sich fragen, wie die Menschen damals gelebt haben. Und dazu kann man nur sagen: stinknormal, irgendwo zwischen deutscher Korrektheit und amerikanischem Pragmatismus hat man und vegetiert man vor sich hin, wie eine Pflanze, die seine Umwelt zwar registriert, aber nicht wirklich auf sie reagiert, wie ein Ast, der ein bisschen mit dem Wind schwankt und sich der Sonne zuneigt, aber auch nicht alles fallen lässt, wenn es einmal regnet...

Sonntag, 10. Juni 2012

Zyklisches zum Anderswo: Vom Unort und vom Denken. Ein postmoderner Memento-Mori-Monolog.

Ein in sich greifendes Gewirr aus Sätzen
Denken nennst du es
ich sage schwätzen.

Die großen Geister singen dir
ein immergleiches Rauschen
ich habe sie längst hinter mir.

Was sei der Mensch ohne sein Denken
fragst du: endloser Verlust
bloß Fleisch, getragen von Gelenken

Und was edle ihn, den Menschen noch
außer doch sein Wissen
im zwecklosen Naturmoloch?

Lenk ein, sag ich, Lenk ein
du denkst zu viel, und hängst zu sehr am Wissen
du wirst doch nicht einer von denen sein
die am Logos hängen und dabei den Mythos missen?

Das mag' am Schluss kein Gott dir mehr verzeihen
wenn du der endlos lebend Spielereien
nur nüchterne Gedanken schenkst
und deinen Blick in ewig-graue Bücher senkst.

Nein: du musst dir nicht das Hirn verrenken
vom Wissen ward noch keiner froh
Drum erfreue dich an den Geschenken
denn bald schon bist du anderswo.

Freitag, 8. Juni 2012

"Von früher Kindheit an sah er beinahe täglich, wie Genfer Bürger dafür kämpften, dass die republikanische Verfassung, also der Volkswille, nicht zu einem Stück Papier verkommt". Rosseau wird 300.

Jean Jaques Rosseaus Rezeptionsgeschichte dürfte ungefähr so durchwachsen sein wie sein Lebensweg. Wie seine Texte wanderte auch Rosseau selbst jahrzehntelang durch die Länder Europas. Damit durchwanderte er - ebenso wie seine Texte, deren Zeitlosigkeit obendrein dafür sorgen, dass sie nicht nur jahrzehnte-, sondern jahrhundertelang durch die Welt kursierten und kursieren - nicht nur Raum, Geographie, Land- und Stadtschaft, sondern auch Gesellschaften, Politiken, Ideologien und Gesinnungen. Selbiges lässt sich auch von seinen Texten behaupten: vom Helden der französischen Revolution, vom Stifter eines Freiheits- und Volkswillens, vom Demokraten der Masse bis hin zum Totalitaristen ist Rosseaus Schreiben die ganze Palette des politischen Spektrums unterstellt worden, und sie wird ihm bzw. seinem Schaffen noch heute unterstellt.

Freilich: wer die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ernst nimmt - und wer, außer der, der sie nicht kennt, könnte das nicht tun? - der wird sich bei Begriffen wie dem des volonte generale, dem Volks- oder Gemeinwillen, nicht ganz wohl fühlen. Überhaupt ist durch die Totalitarismen eine nicht unberechtigte Angst vor allem Über-Individuellen in den Politikdiskurs geraten. Deshalb versteift sich auch eine so genannte zeitgenössische Debatte über "das Politische" auf den Begriff der Freiheit. Im Zentrum jeder Politik - zumindest jeder demokratischen - steht heute die liberale Freiheitsidee. Vom gendering bis zur Gleichberechtigung ist das Ziel die maximale Freiheit des einzelnen, die autonome Selbstbestimmung: im Rahmen seiner staatlichen Begrenzung der Freiheit tun und lassen zu können, was frau will.
Allerdings wird in dem Fokus auf diese Selbstbestimmung, wie es scheint, die Wurzel der Demokratie, nämlich die Mitbestimmung und damit jener Begriff, für den sich Rosseau so radikal eingesetzt hat, zusehends aus dem Diskurs geblendet. So besitzt der Einzelne heute mehr Freiheitsräume denn je, gewiss. Aber welches Tun ihm konkret freisteht, entscheidet er immer seltener selbst. Die Ur-Idee Rosseaus, in der der Volkswille kein abstraktes Prinzip, sondern aus direkter Volkswahl, hervorgeht, scheint vergessen. Dabei ist selbstverständlich das moderne Europa nicht mit dem Genf Rosseaus vergleichbar und müsste das System direkter Demokratie in einer Massengesellschaft der Moderne wohl schon aufgrund praktischer Undurchführbarkeit ad acta gelegt werden oder zumindest nur begrenzt zu verwirklichen sein. Das kann aber nicht über die Tatsache disponieren, dass die Freiheit, die wir genießen, zunehmend eine oktroyierte ist. Denn während frau machen kann, was sie will, muss sie wollen, was sie soll. Und was der Einzelne soll, entscheidet nicht mehr der demokratische Diskurs, sondern die Repräsentation einer Repräsentation einer Repräsentation. So entsendet jedes Land seine Abgeordneten - Repräsentanten des Volkswillen, gewiss - ins Europaparlament, wo sie dann repräsentativ für die geeinte EU stehen. Dazu treten dann Repräsentanten der Ideen und Ziele der Gemeinschaft, die Verfechter der Verträge: der europäische Rat und der Ministerrat der EU. Und dabei ist nicht zu vergessen, dass auch die Grundideen Europas kein Ergebnis demokratischer Gestaltung darstellen, sondern vielmehr einer politisch-wirtschaftlichen Notwendigkeit verstärkter europäischer Kooperation zunächst in marktpolitischer Hinsicht entsprungen ist. Die Öffnung des Binnenmarktes, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Waren- und Kapitalsfreiheit: das sind nicht jene verfassungsrechtlichen Grundpfeiler, für die Rosseau, Locke oder Kant einmal eingetreten sind, um den Bürger aus seiner Unterdrückung zu entlassen und es sind sicher nicht jene Grundfreiheiten, die den "kleinen Mann", den Bürger von heute also, interessieren.
Wie dem auch sei: mit dieser europäischen Art Politik zu betreiben ist der Entscheidungsprozess ein höchst abstrakter, ein höchst allgemeiner und als solcher ein Prozess, der einer totalitären Besserwisserei vom guten Leben, das nicht der Einzelne selbst, sondern der Staat für den Einzelnen zurechtschneidet, nicht unähnlich sieht. Während nämlich die europäische Repräsentanzdemokratie genau weiß, was für seine Bürger richtig ist, werden diese herzlich selten gefragt: die "Gebote der Klugheit", beispielsweise jene, auf sich selbst zu achten, nicht zu viel zu rauchen, zu essen oder zu trinken, ausreichend Sport zu betreiben, Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht zu überschreiten oder aber auch die Einführung von Helmpflichten, die Diskussion von der Nummerntafel fürs Rad sind freilich keine Ideen, die einem demokratischen Volks-, sondern einem totalitären Ordnungswillen entspringen. Daneben finden sich Aufzeichnungen über Telefondaten, Internetdaten und auch sonst wird jede Kleinigkeit, die irgendwann einmal irgendjemand gemacht hat, irgendwo aufzufinden sein. Während dort in Wien Kameras hängen, wo nicht Polizisten für Recht und Ordnung sorgen, gibt es in England täglich soviel aufgezeichnetes Filmmaterial, dass dieses - selbst wenn die Gesamtbevölkerung nichts anderes täte, als diese Filme anzusehen - gar nicht mehr angesehen werden kann.

Wenn aber neben technischer Überwachung des Bürgers solche Gebote des Maßhaltens, die sich mindestens bis auf Aristoteles zurückführen lassen, keine Gebote der Ethik mehr sind, sondern in Gesetzesform gegossen werden, ist die Frage nach dem richtigen Leben eine Frage nicht des Einzelnen, sondern des Staates geworden. Dass aber der Staat- oder in diesem Fall die Union - ein Patentrezept 'Leben' auf eine Bevölkerungszahl von 500 Millionen Einzelmenschen anwendet und allen Ernstes glaubt, diesen damit gerecht werden zu können, ist, gelinde gesprochen, anmaßend.

Allein dieser Umstand stimmt bedenklich, allerdings könnte er freilich im Genf Rossaues immerhin eine Rechtfertigung im Volkswillen finden: dieser hätte zwar eine problematische Schlagseite - nämlich die der Unterdrückung der Minderheit. Noch problematischer allerdings scheint eine Praxis, die weder vor der Masse, noch vor der Minderheit durch die Mitbestimmung derselben zu rechtfertigen ist.

Dabei scheint die Rosseau-Interpreten von heute allerdings der nicht-totalitäre, sondern der radikal-demokratische Rosseau wieder mehr in den Sinn zu rücken, während zur Nachkriegszeit und den Schreckenserfahrungen der totalitären Regimes weltweit ein liberaler Rosseau undenkbar schien. Wie der Autor selbst ist eben auch der Interpret nicht unabhängig von Zeit und Raum, vom persönlichen Standpunkt - wie der Autor selbst ist auch der Interpret doppelt örtlich gebunden: sowohl sein Ort im geschichtlichen Raum (also jener, der sich über die Geschichte eines Landes konkretisieren lässt), als auch der im gesellschaftlichen, engen Blickwinkel und Perspektive ein:

So wird dem griechischen Rosseau-Leser, der sich von europäischer Politik zusehends unterdrückt fühlt, der demokratische Rosseau eher ins Auge fallen als dem selbstgerechten Deutschen, der sich der Meinung hingibt, alles richtig zu machen - der Maßstab freilich ist, wie immer, die Wirtschaft - und deshalb diese Richtigkeit über die Grenzen hinaus in den Euroraum exportieren zu müssen (und der Deutsche ist ein hervorranger Exportteur, wie der Österreicher, der sich immerschon gerne von ihm beliefern ließ, wissen muss). Ja, was interessiert den reichen Mitteleuropäer aus Deutschland oder Österreich die Mitbestimmung Griechenlands? Was interessiert uns auch das Land Griechenland selbst? Außer der griechischen Antike weiß man von diesem Griechenland so wenig, wie von Tschibuti: Oliven, Öl, Tzatziki und Urlaub, das ist das Griechenland des Österreichers. Wie aber dieses Land funktioniert, welche Geschichte es nach Aristoteles eingeschlagen hat und wie es in Vergangenheit zu Rande kam, interessiert nicht. Was an Griechenland interessiert ist, dass die Zahlen nicht stimmen, und das der Grieche nun - nachdem er es jahrelang verabsäumt hat - funktionieren muss, und zwar so, wie das der Euro will.

Genau gegen ein solches Leben, gegen ein solches Diktat von der Obrigkeit, hat der Demokrat Rosseau mit seinem volonte generale angekämpft. Genau diesem volonte generale ist aber schließlich das paradoxe Schicksal zu teil geworden, selbst in den Totalitarismus abzurutschen - dann nämlich, wenn der volonte generale nicht mehr als gelebte Demokratie, sondern als von der Obrigkeit postuliertes, abstraktes Prinzip zum Schlagwort für das richtige Leben zu werden droht, wenn also der Gemeinwille nicht so, wie er ist, sondern so, wie er sein sollte, zur Anwendung kam und kommt. Auch in Griechenland wird längst nicht mehr die Stimme des Volkes, sondern die Europas gehört und genau diese Taubheit, nicht aber die Unbereitschaft, etwas zu leisten ist es letztlich auch, was die Menschen auf die Straße treibt. Vor Brüssel aber kann der Grieche nicht demonstrieren. Genf ist eben nicht Europa.

Rosseau jedenfalls wird es, mittlerweile, Einerlei sein. Sähe er das moderne Europa, so wäre er wohl nur mäßig erfreut. Sähe er die Geschichte dieses Europa, die zu nicht geringen Teilen im Rückgriff auf seine Ideen geschrieben wurde, wäre er wohl ebenso unerfreut. Nicht zuletzt würde er vielleicht sagen, er habe es anders gemeint, man habe ihn falsch verstanden - letztlich habe er es gut gemeint. Und das ist gewiß richtig: wie man in der französischen Revolution darauf vergessen hat, dass auch diejenigen, deren Hals in der Guillotine steckt, Teil des Volkes sind, scheint man heute diese europäischen Völker selbst zu vergessen. Fakt ist aber, dass das Gut-Gemeinte, das auch die europäische Politik herumtreibt, schon oft zum Schlechten geführt hat.

Letztlich ist nämlich auf einer größeren Ebene dieses Gute, dieses Richtige nicht vielmehr als ein abstrakter Begriff, der sich einer Berwertung ex ante versperrt. Ob die Rettung Griechenlands überhaupt diktiert werden kann, ist fraglich, weil unklar ist, ob eine solche Rettung überhaupt möglich ist. Dass sie undemokratisch ist, liegt auf der Hand. Dass ein Volk auch seinen eigenen Untergang wollen darf - sofern es denn ein solcher wäre, wenn man dem Ruf der Griechen aus dem Euro nachgäbe - ist Wohl ein demokratische Denknotwenidgkeit: "Lieber stehend sterben, als knieend leben" hat das im spanischen Arbeiterkampf noch geheißen - und auch Spanien steht, ähnlich wie den Griechen, das Knien bevor.

Aber nicht nur auf einer gesamteuropäischen Ebene sind die Vorgänge der jüngsten Geschichte aus demokratischer Sicht fragwürdig. Auch das individuelle Leben in weniger krisengebeutelten Regionen wie hierzulande ist von einer Politik getragen, mit der er sich nur schwer indentifizieren wird können. Und vielleicht sollte gerade deshalb vom übertriebenen Regulieren der Bürger abgesehen werden: denn auch für die Politik scheint zu gelten, dass weniger oft mehr, dass Maßhalten geboten ist: wer seinen Bürgern im Namen der Freiheit vorschreibt, was sie zu tun haben, tut ihnen damit vielleicht objektiv und abstrakt einen Gefallen. Aber ob damit dem menschlichen Naturell, das gewiss auch imperfekte Züge trägt, gerecht werden kann, bleibt fraglich. Und es ist auch fraglich, ob der Mensch zum richtigen Leben verdammt werden soll oder ob es nicht besser wäre, auch dem Laster seinen Raum zu lassen. Das Laster muss gesetzlich eingegrenzt werden, gewiss. Aber es darf nicht grundsätzlich verboten werden.

Mittwoch, 6. Juni 2012

Wie der Wahnsinn wieder wirkt.

Kaum jemand hat es noch nicht mitbekommen, kaum jemand freut sich nicht darauf aber niemand weiß so recht, warum eigentlich: Österreich ist im EM-Fieber. Das ist verwunderlich aus mindestens drei Gründen: Österreich ist nicht dabei, Österreich soll nicht dabei sein und Österreich hat sich die Teilnahme an einem Großturnier seit der letzten richtigen Qualifikation - Frankreich 98 - auch nicht verdient. Trotzdem sind die Leute hierzulande gespannt und erfreut, dass endlich wieder Fussball auf höchstem Niveau gezeigt wird. Vielleicht relativiert dies auch die eingangs genannte Verwunderung darüber, dass sich die Österreicher auf die EM freuen wie kleine Kinder sich über einen Lutscher freuen, Tatsache ist nämlich, dass hierzulande kaum je betrachtenswertes fussballerisches Niveau erreicht wird und es insofern erfreulich ist, solches bewundern zu dürfen (eigentlich freut sich der Österreicher über die EM wie ein kleines Kind, dessen Bruder oder Schwester einen Lutscher bekommt - was in dieser Konstellation aber nur selten zur Freude führen wird und daher ein etwas hinkendes Analogon darstellt, aber wie betreiben hier nicht Literaturtheorie oder Rhetorik, sondern Fussballvorfreude, und da gelten bekanntlich ganz andere Regeln).

Von der Zeit-Redaktion über den Hobbyblogger schreiben sie alle nur mehr über die am Freitag beginnende Euro. Das mag einfallslos und einseitig sein, aber das macht überhaupt nichts. Auch die nächsten Wochen werden einfallslos und einseitig, und trotzdem freuen wir uns darauf. Überhaupt fällt eine Last von den Schultern zumindest der Männer und auch einer immer größerer werdenden Frauenschar, die sich zusehends der Fussballbegeisterung hingibt: endlich ein paar Wochen ohne groß nachzudenken, was man machen soll, endlich ein paar Wochen mit qualitativer Unterhaltung - denn das ist Fussball selbst dann, wenn er schlecht ist wie die Zuschauerzahlen der österreichischen Bundesliga beweisen. Die Frage, was mit sich anzufangen sei, stellt sich nicht, weil von 17 Uhr weg Fussball läuft. Das scheint überhaupt das große Geheimnis des Erfolges dieser Sportart zu sein: ihre Konsensfähigkeit. Fussballschauen geht alleine und ist mit größter Wahrscheinlichkeit besser als das übrige Fernsehprogramm, selbst dann noch, wenn nichts anderes läuft als Alemannia Aachen gegen die Sportvereinigung Greuter Fürth (was vielleicht vom Niveau her noch über der hiesigen Bundesliga einzuschätzen ist, dann aber angesichts der eigenartig fremd anmutenden Orte, die sich da gegenüberstehen, kaum mehr Relevanz für den Österreicher hat). Fussballschauen geht aber noch besser mit ein paar Freunden und am Besten geht es mit ein paar Freunden und ein paar Bieren (wenngleich man zum Biertrinken weder Freunde noch Fussball braucht, steigert doch beides merklich den Genuss desselben). Und dann kann das Spiel meinethalben ein schwaches sein - man muss ja nicht ständig hinschauen, sondern kann sich nicht nur über die Schlechtheit des Spiels oder einzelner Spieler beklagen, sondern auch rundherum besprechen, was einem in den Sinn kommt.

Oder aber - und das bleibt doch zu hoffen - man bekommt ein Spiel zu sehen, dass einen verstummen lässt, eines jener Spiele, von denen man in zwanzig Jahren noch schreiben wird und von denen die Jungen sich dann ob ihrer Jugend ärgern, weil sie es verpassen mussten. Und auch dann ist man froh, ein solches Spiel mit Freunden geteilt zu haben. Und deshalb darf Fussball letztlich sowohl einfallslos als auch einseitig sein: man kann damit nichts falsch machen, hat aber im Optimalfall alles richtig gemacht. So, wie wenn bei Spielen zu den Bayern - oder bei der EM den Deutschen - geholfen wird: einerseits kann ihnen nämlich so der zustehende Respekt, den der kleine dem großen Bruder - sofern man das in Österreich über die Beziehung sagen darf - nur allzu selten gönnt, zugesprochen werden, denn klar ist, dass die deutsche Mannschaft zur Zeit neben den Spaniern wohl die Stärkste ist und der Fussball, den sie bietet, darüber hinaus gut anzusehen (zumindest bei den letzten Großevents). Man kann ihnen diesen auf reinem Respekt und Anerkennung basierenden Zuspruch heutzutage gefahrlos zukommen lassen, selbst als Österreicher - ein bloß anti-deutscher Gestus wäre schlichtweg eine Boykottierung des Sports, den diese Mannschaft zur zeit wie weltweit nur 3,4 andere beherrscht, selbst. Andererseits aber erlaubt diese Anerkennung eine heimtückische Missgunst, die dem Österreich ohnehin nicht fremd sein dürfte: wenn nämlich, wie die Bayern in der Champions Legaue die Deutschen bei der EM mehr als unverdient verlieren sollten, kann man sich umso mehr freuen, dass ihnen ihr Können nichts eingebracht hat. Und dann war das vielleicht unfair, ungerecht oder unerhört, dafür aber umso geiler.

Freitag, 1. Juni 2012

Die Generalklausel

Sie ist eine wunderbare Erfindung, sie hilft uns in der Not und vor allem dann, wenn sonst nichts mehr hilft: die Generalklausel. Im Zweifelsfall, so der Zivilrechtler am Rednerpult im überfüllten Übungssaal, wenn Ihnen also überhaupt nichts einfällt, kommen's Ihrem Gegenüber einmal mit irgendeiner Generalklausel, weil das Schlimmste für einen Juristen - und das sei die juristische Grundregel schlechthin - sei zuzugestehen, im Moment nicht weiter zu wissen. "I waas ned, gibt's ned", so der Mittvierziger im Karrierehemd mit Manschettenknöpfen. Dass er in Döbling wohnt, lässt sich nur vermuten, dass er dort aufgewachsen ist, liegt auf der Hand. Er ist jener Typus Mensch, der 20 Jahre jünger rechts und links neben mir sitzt - ein mittlerweile erwachsener Bobo aus gutem Wiener Elternhaus wo Geld zwar eine untergeordnete, aber umso größere Rolle spielt. Für Menschen wie ihn war Geld nie eine existenzielles Bedürfnis, sondern immerschon eine Frage des Etiketts: wer nichts hat, hat nichts zu melden.

Rundherum geraten die Bobos ins Staunen. Ein solches Argumentationsgeschick, eine solche Strategie, einen solchen Einblick ins praktische Leben eines Juristen - noch dazu eines äußerst angesehenen im in dieser Hinsicht nach wie vor eminenz-, nicht aber evidenzfürchtigen Wien - hinterlässt Eindruck.
Generalklauseln also. Generalklauseln, so der Zivilrechtler, sind unsere Freunde. Generalklauseln erlauben uns Spielraum, Ermessen, Argumentationsräume. Eine dieser Generalklauseln - womöglich sogar die wichtigste - ist der so genannte 879er ABGB. Wenn Sie einmal vor einem Juristen stehen, können Sie ihm den genannten 879er um die Ohren schmeißen - er wird sich freuen und Sie für äußerst clever halten. Es ist nämlich auch dies eine Sache der juristischen Standesehre: gewisse Paragraphen beim Namen nennen. "Heute wieder einen Prozess mit dem 879er gewonnen" und dafür ein Schulterklopfen des Kollegen ernten, das ist es, was den Juristen antreibt. Und selbstverständlich: solche Paragraphen kennt man beim Namen, der 879er ABGB, der 16er ABGB udgl.mehr muss man nicht erklären, die kennt man, wie man sich auch in Oberdöbling kennt oder in Grinzing oder im Krapfenwaldl: da ist man seit jeher unter sich geblieben und, wie man sieht, hat sich das seit jeher ausgezahlt. Deshalb ist der 879er ABGB - mitsamt seinen Generalklauseligen Kompanien - immer schon den Oberdöblingern und Grinzingern aus unerfindlichen Gründen nähergestanden, als sagen wir, den Rudolfsheim-Fünfhausnern. Weil nämlich die Oberdöblinger schon lange ein enges Verhältnis zum 879er und Co haben, hält ihnen selbiger Treu die Stange.

Was aber ist jetzt ein solcher 879er, eine solche Generalklausel, und warum mag er gerade die Döblinger bzw. warum mögen ihn gerade die Juristen so gerne, die in erster Linie Döblinger vertreten oder selbst solche sind (denn freilich geht keiner auf das Zivilrecht los, der dann den Armen auf der Welt helfen will. Da müssen Sie schon einen Sozialrechtler oder, meinetwegen, einen Völkerrechtler konsultieren)? Tatsächlich ist eine Generalklausel eine nicht ganz ungeschickte Einrichtung. Der 879er zum Beispiel beinhaltet die so genannte "Gute-Sitten-Klausel": "Ein Vertrag, der gegen ein gesetzliches Verbot oder die guten Sitten verstößt, ist nichtig." Damit hat der Gesetzgeber nun einen Tatbestand geschaffen, unter den sich so gut wie alles subsumieren lässt. Denn was gegen die guten Sitten verstößt, sagt uns das Gesetz nicht mehr. Und wer sagt uns das? Richtig: der Jurist aus Oberdöbling! Gegen die guten Sitten kann in einer pluralistischen Gesellschaft - sofern es solche in einem allgemeinen Sinn überhaupt gibt - so gut wie alles verstoßen. Gleichzeitig kann freilich so gut wie alles mit diesen guten Sitten konform sein, und das ist das Schöne am 879er: der biegt sich im Wind, wie ein Schilfrohr. Mal kippt er dorthin, ein andermal wieder dahin, aber meisten dann nach Oberdöbling.

Aber gerade diese Biegsamkeit macht den 879er nicht nur zu einem rechtsanwenderfreundlichen Paragraphen, der sich im Zweifelsfall - und freilich, der Zivilrechtler hat völlig recht - immer einmal dem Gegenüber um die Ohren hauen lässt, und sei es nur, um Zeit zum Denken zu gewinnen. Vielmehr noch macht diese Biegsamkeit den 879er zu einer wunderbar österreichischen Konstruktion. Wer hierzulande ins Recht will, muss immer schon drinnen sein. Ansonsten weiß man vielleicht, wo und wie die Paragraphen wuchern - und glauben Sie mir, kaum etwas wuchert mehr als die österreichischen Paragraphen - aber von wo der Wind herweht, das sagt einem das Recht selber nicht mehr. Das ist dann, wie man so schön sagt, eine Frage der Auslegung, und auslegen dürfen dann wieder nur die, die schon drinnen sind, im Recht.

Aber wer nun glaubt, dass die Generalklauseln eine Rechtsform sui generis, eine Seltenheit und ein Ausnahmefall seien, der täuscht sich ganz gewaltig. So mag es zwar ein Gebot der Rechtssicherheit sein, Normen möglichst klar und präzise zu formulieren um möglichst wenig Spielraum zur Interpretation zu lassen, um Gleichheit vor dem Gesetz nicht zu einer Phrase vor dem Hintergrund ungleicher Einzelfallgerechtigkeit verkommen zu lassen. Aber dennoch ist der österreichische Gesetzgeber schon von alters her darauf erpicht, das Gesetz mit Generalklauseln zu versehen, die einem im Zweifelsfall erlauben, das ins Gesetz hineinzulegen, von dem man dann behaupten wird, es sei immer schon drinnen gestanden. Wenigstens vor diesem Hintergrund hohlphrasiger Normsetzungen wie jener der guten Sitten Klausel ist der Österreicher also äußerst konsequent - wenn auch konsequent inkonsequent. Konsequent insofern, als sich solche Klauseln im Gesetz häufig wiederfinden. Inkonsequent aber dahingehend, dass sich Anspruch - eben solche Klauseln zu vermeiden - und Rechtsspruch alles andere als decken.

Eine solche Ansammlung von Paradoxien müsste eigentlich verwundern. Und so verlässt man Übungsräume, in denen Zivilrecht praktiziert wird, mit gespaltenen Gefühlen. Zwar erscheint einem der oberdöblinger Jurist nicht nur ungustiös, sondern in seiner Präpotenz sogar abgeschmackt. Andererseits aber kann ihm eine gewisse Qualifikation ebensowenig abgesprochen werden wie ein gewisses Charisma, das zumindest bei seinem Klientel - nämlich anderen Oberdöblingern, bei denen selbiges wohl schon klimatisch-geographisch (das auf Wien herabblicken als plastischer Charakterzug) bedingt ist - Zuspruch finden wird. Mehr als seine Arbeit macht er jedenfalls nicht, und die eigene Position in einem System zum eigenen Vorteil zu verwenden erscheint wohl nicht so sehr als verwerflich, sondern vielmehr als vernünftig.
Und so schlendert man also aus dem Übungsraum und gelangt wieder an, wo man schon so oft aufgehört hat: man betreibt Systemkritik. Nicht der Rechtsanwender, sondern der Rechtssetzer habe überhaupt erst zugelassen, dass solche Paradoxien dazu führen, Lebensschicksale zu entscheiden. Und wenn man darüber nachdenkt, wie der SPÖ und Grünen-Nachwuchs Semester über Semester Texte von Butler, Lacan oder Zizek interpretiert, kommt einem zu Bewusstsein, dass es auf die eine oder andere Paradoxie dort nicht ankommen wird, und selbiges gilt freilich für die Bürgerlichen, wenngleich hier die Pflichtlektüre womöglich etwas anders aussehen wird (aber auch Popper und Hayek würden wohl aufschreien, wenn sie mit Hans Küng und Karl-Otto Apel im Niederösterreichischen Landhaus Pröll und Co die Welt erklären müssten und dabei einem liberal-ökonomisch-katholisch-bäuerlich-konservativen Standpunkt einnehmen müssten (selbst ein konservativer Sprachkünstler wie Sloterdijk müsste hier wohl kapitulieren).

Und deshalb marschiert man irgendwann aus der Universität und kommt zu dem einfachen, aber beruhigenden Schluss, dass dieses Land etwas besseres wie Generalklauseln einfach nicht zu stande bringt. Nicht nur wird es von Menschen regiert und vertreten, deren Hauptgeschäft es ist, leere Phrasen zu dreschen. Mehr noch passt dieses Innerlich-Hohle in die Mentalität dieses Landes wie in kein Zweites. Diese Leere und Biegsamkeit ist etwas ur-österreichisches, ein geschichtliches Faktum des Vorbeugens - sei es nun der Kaiser, die NS-Ideologie oder nur der vorgesetzte Herr Hofrat, vor dem die Beamten demütig knie. Nur mit guten Sitten, könnte man meinen, hat das nichts mehr zu tun.

Montag, 21. Mai 2012

Gedanken zur Statistik.

Statistisch betrachtet gewinnt im Eishockey die Mannschaft, die das erste Tor in einem Spiel macht, dieses mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,8. Die Chance, nach dem ersten Treffer als Sieger vom Platz zu gehen, beträgt dementsprechend 80%. Keine schlechte Zahl. Eigenartig nur, dass die Pittsburgh Penguins im Stanley-Cup Achtelfinale nur in einem Spiel nicht das erste Mal trafen, und gerade dieses gewonnen haben. Alle anderen Spiele eröffneten die Pinguine mit einem Treffer zu ihren Gunsten, verloren aber anschließend. Nach 4:1 Spielen und 1:4 Ersttreffern waren die Philadelphia Flyers ihrem unmittelbaren Tabellennachbarn (Philley 5., Pittsburgh 4.) Haushoch überlegen - eine Überlegenheit, die angesichts der hachdünnen 2 Punkte Marke, die den 4. vom 5. Platz unterscheidet (auf 82 Spiele gerechnet sollte das Kräfteverhältnis doch an sich etwas weniger deutlich auseinanderklaffen), kaum zu verstehen ist.

Noch viel unverständlicher ist aber, dass dieser Tage die Los Angeles Kings, die mit Ach und Krach überhaupt ins Playoff eingezogen sind (sie haben, wie man sagt, den letzten "Play-Off-Spot" geclinched), plötzlich einen Ligarekord aufstellen: keine Mannschaft in der Geschichte der NHL hat mehr Auswärtssiege in Folge in den Playoffs verzeichnen können, wie die Kings - 7 Spiele hintereinander ungeschlagen vor fremdem Publikum vom Eis zu gehen ist in jedem Fall eine Empfehlung für den Titel.

Auf der anderen Seite der so genannten States kämpfen - wo L.A. mit 3:1 Siegen gegen Phoenix so gut wie durch ist, zumindest laut Statistik - New York und New Jersey im Lokalderby um den Einzug ins Stanley-Cup Finale und auch hier fragt man sich nicht zu unrecht, woher zur Hölle eigentlich die Devils kommen. Die haben zwar eine gute Saison gespielt, aber so richtig auf der Rechnung haben wollte sie auch keiner - und auf einmal sind sie da: einen 45-jährigen Torhüter in der Kiste (unbestritten einer der Besten der Welt, aber trotzdem in keiner relevanten Statistik vorhanden, da zu viele Gegentore bei zu wenigen Schüssen), keinen Stürmer in den Punktbestenlisten (einzig Ilya Kovalchuk scheint mit 6 Treffern innerhalb der Top 5 Torschützen auf, was allerdings relativ ist, wenn man bedenkt, dass er 14 Spiele dafür gebraucht hat, wohingegen der Toptorschütze der Play-Offs kurioserweise nach wie vor Claude Giroux, seines Zeichens ein Philadelphia Flyer, ist, der mit 8 Treffern aus 10 Spielen zwar eine hervorragende Statistik vorzulegen hat, die aber dennoch das Aus der Flyers nicht verhindern konnte).

Man wechsle nun die Szenen. Nicht nur Übersee, sondern auch diesseits des großen Teiches sind die Menschen sportbegeistert. Während Eishockey in Amerika nicht die ganz große Nummer ist - an Football und Baseball führt kein Weg vorbei - , hat der Europäer vergangenes Wochenende die höchste sportliche Weihe erhalten: der Leib Christi ein Lederball, der Wein aus Isostarflaschen und das Kruzifix nur ein halbes, ein Eckgestänge nämlich, in das es rein zu treffen gilt. Gerade das aber gelang dem so genannten Stern des Südens nicht. Das erzkatholische Bayern hätte, statistisch betrachtet, gar nicht verlieren können. Umgekehrt hat der FC Chelsea das Unmögliche wahr gemacht: Didier Drogba trifft aus der einzigen Chance Chelseas ebenso kaltschnäuzig wie trocken, während die Bayern an diesem Tag sogar unters Tor geschossen hätten, wenn dies die Physik zugelassen hätte.
Am Ende des Spiels hat sich dann auch die statistische Wahrheit verabschieden müssen, die da sagt, dass beim Elfern immer die Deutschen gewinnen. Didier Drogba ist es abermals, der seelenruhig Neuer verlädt - wie ein Vater das mit seinem Sohn macht, wenn er mit ihm spielen will, aber zeitgleich doch den Beweis erbringen möchte, Herr im Haus zu sein.

Und ganz am Ende - so richtig vorbei ist so ein Spiel ja überhaupt nie oder erst, wenn das Nächste kommt - lamentieren sie dann, die Würdenträger: der (Fussball)Kaiser im säkularen Bayern meint, so etwas noch nicht gesehen zu haben (und bleibt dabei, wenn man so will, Realist), der Ökonom (den Ulli Hoeneß interessiert ja nicht nur die Anzahl der Tore, sondern auch der verkauften Eintrittskarten) sieht die Bilanzen und ist unglaublich enttäuscht, zugleich aber nach vorne blickend. Der große Rest von Fußballdeutschland aber, der Proletarier sozusagen, der wirft die Hände gen Himmel und erklärt den Fussballgott für tot. Aber gestorben sind schon ganz andere Götter und eines ist auch klar:

wenn der Fussballgott sich auf eine statistische Größe reduzieren ließe, die da sagt "wer so und so oft hinschießt und so und so viele Ecken tritt, der wird irgendwann gewinnen", dann wäre das kein anbetungswürdiger Gott. Nietzsche wusste ja nicht nur, dass Gott tot ist, sondern dass man vom moralischen einen ästhetischen Gott unterscheiden muss: das Gute, das Richtige und das Gerechte - das war immer schon mindestens so notwendig, wie es langweilig war. Und vielleicht hat bei Chelsea ja ein ästhetischer Gott zugeschaut oder, vielleicht ist der Fussball- oder Sportgott ja tatsächlich ein Ästhet, und kein Moralist: und dann kann er auf lamentierende Kaiser ebenso wenig Rücksicht nehmen, wie auf unglückliche Pinguine. Dort wie da verliert am Ende der verdient, der verliert, und zwar weil er verloren hat.
Alles andere ist Statistik - und für die hat sich noch keiner stundenlang vor den Bildschirm gesessen, wenn er nicht musste.

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