Sonntag, 27. November 2011

Nichtssagendes: Nostalgische Novembernächte

Die Ringstraße ist in Nebel gehüllt. Ein Nebenschleier, denkst du dir, wäre die reinste Untertreibung, eine regelrechte Nebelwand türmt sich auf und aus der Luft leuchten nur vereinzelt die Lichter des Parlaments und Rathauses aus einer tiefschwarzen Nacht heraus. Über dir flattert die Fahne in der Kälte und überhaupt macht es den Eindruck, als würde hier Bedeutendes geschehen. Die Einsamkeit, die sich hier im Stadtzentrum abspielt, ist vermutlich eine weltweit einzigartige, denkst du dir, Wien im Winter, das ist nach wie vor biedermeierlich und biedermeierlich sind in letzter Konsequenz auch die Menschen geblieben. Unverhohlene Opportunisten, ungeniert heutzutage noch dazu, die am Liebsten doch in ihren eigenen 4 Wänden hocken, weil sie alles und jeden kritisieren wollen und perfiderweise sogar müssen, ja sie können gar nicht anders, als immer wieder die Anderen auszurichten und verbal hinzurichten, nur hinter verschlossenen Türen, weil ihnen draußen der kalte Wind in die Gichtfinger zischt.
Aber vielleicht spricht die Frustration aus dir, die Kälte macht auch dir zu schaffen und die Straßenbahn, auf die du schon seit Ewigkeiten wartest - die Zeit wird in der Kälte zu einer höchst relativen Messgröße, sie dehnt sich in der Kälte scheinbar, ganz umgekehrt zur Materie, aus wie ein alter Kaugummi - macht keine Anstalten, dich endlich abzuholen,
Die Misanthropie, der Menschenhass überhaupt, denkst du dir, ist ein städtisches Phänomen. In dem Moment nämlich, in dem du in die Straßenbahn steigst - es ist noch ein altes Modell aus der Zwischenkriegszeit, 1920er Jahre - bemerkst du, dass es doch noch Menschen gibt, auch im winterlichen Wien, dass du sie aber, in den tiefsten Tiefen deines Herzens - Tiefen also, die wesentlich Untiefen sind, wenn man die Schalheit und das Oberflächliche alles scheinbar Tiefgründigen einmal erblickt hat - überhaupt nicht sehen willst, du willst eigentlich überhaupt nichts sehen und wünscht dir eben jene Benebelung herbei, die vorhin gerade das Parlament umrundet hat. Die geistige Umnachtung dieses Parlaments wünscht du dir aber wie alles wirklich Wünschenswerte ist auch dieser Zustand keiner, der sich einfach herstellen ließe sondern im Gegenteil wesentlich ein solcher, der dir passiert.
Auch deine Misanthropie passiert dir, städtischerweise nicht zufällig gerade im November, wo sich plötzlich wieder die existenziellen Abgründe auftun und du dich vor Fragen siehst, die du besser nie gestellt hättest. Nicht ganz ohne Schamgefühl musst du dir eingestehen, dass der Rhytmus der Natur einen beträchtlichen Einschnitt in deine so heiß geliebte Individualität darstellt, dass er es ist, der dich traurig macht, am Anfang des Winters, wie er so viele andere auch traurig macht, von denen du nichts wissen willst, mit denen du aber, wie es scheint, durch ein eigenartiges Band verbunden bist.
Du erinnerst dich an das Landleben, wo es im Herbst keine Straßenbahnen gibt. Höchstens ein Bus alle zwanzig Minuten, das ist eine beinahe reizende Frequenz im Vergleich zum Drei-Minuten-Takt der Großstadt. Im Landherbst warst du auch nicht glücklich, statt der Ringstraßen- bist du eine Seerunde gegangen und hast nicht die Menschen generell, sondern die Landmenschen verflucht, weil du sie alle gekannt hast und prinzipiell noch heute kennst und weil du sie dauernd grüßen hast müssen beim Gehen, weil sie dauernd mit dir reden wollten und du überhaupt nie deine Ruhe hast finden können. Im Endeffekt waren es dort die Bekannten und Verwandten, die du nicht ertragen hast, jetzt aber sind es die Menschen überhaupt, die dich plagen. Was für den Landmenschen die Anonymität ist, denkst du dir, ist für den Stadtmenschen die Einsamkeit.

Plötzlich stehst du am Fuße des Wienerwaldes. Aus einem Stadtheruigen stolpern ein paar Betrunkene heraus und weil du schon einmal hier bist, setzt du dich hinein. Es war nicht dein Ziel, hierher zu kommen. Verträumt wie du bist, hast du das Aussteigen vergessen. Hast dir herbstliche Herbstlichter angeschaut, wie sie aus Fenstern leuchten oder auch aus Straßenlaternen. Sie sind beinahe Selbstzweck, niemand spaziert hier und heute freiwillig und dennoch brennen sie dir, wenn du nur willst.
Im Stadtheurigen, der eigentlich ein normales Wirtshaus ist, bestellst du dir einen Herbstbock und erfreust dich an demselben. Dass dich niemand vermisst, ist dir gleichgültig. Du denkst noch einmal an das Parlament und fragst dich, ob es nicht besser wäre, wenn dort ständig die Novembernacht herrsche, ob die Welt nicht überhaupt ein wenig friedlicher wäre, wenn sie mehr Novembernächte hätte.

Musik

Aktuelle Beiträge

Gefällt mir auch rein...
Gefällt mir auch rein äußerlich gut, simple Paarreime,...
Staubkorn - 19. Apr, 18:37
...
Keiner, der dich noch erwartet niemand hat dich hier...
ledsgo - 18. Apr, 18:00
Sehr schön Lederer!;)
Staubkorn - 11. Feb, 10:29
Zeitlebens
Tage prallen aneinander wie Regentropfen sanft und...
ledsgo - 8. Feb, 12:24
Mortalphilosophie *g*
Mortalphilosophie *g*
Staubkorn - 29. Jan, 15:35

Musik


Alltägliches
Gelesenes
Wahrheiten und (Un)Brauchbares
Zitate
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren