Erstes Hauptstück: Vom existenziellen Zweifel am Grund.
Yilmaz, der sich seines persönlichen Unglückes und der absoluten Untragbarkeit seines Lebens immerzu und stets gewiss gewesen war, begann plötzlich, an dieser einen Urtatsache seines Daseins zu zweifeln.
Als Sohn türkischer Emigranten - sein Vater war auf den Spuren des Sultans Mehmed IV. in der ehemaligen Residenzstadt zu Wien stecken geblieben, hatte sich am Institut für Orientalistik der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät beworben und prompt eine Berufung für türkisch-europäische Geschichte erhalten - war Yilmaz freilich in gewisserlei Hinsicht tatsächlich benachteiligt gewesen. Auch wenn niemand ernsthaft bezweifeln würde, dass Yilmaz ein kulturell assimilierter Türke war, der zwar, aufgrund der Bildung des Vaters seine eigenen Wurzeln kannte, allerdings längst nicht mehr nach denselben lebte, so konnte doch niemand die biologische Tatsache mindern, dass Yilmaz nicht aussah wie seine Klassen- und Schulkollegen, später seine Universitätskommilitonen, eine Tatsache, die trotz der westlichen Lebenseinstellung, dem säkularen Weltverständnis – das übrigens nicht erst in Österreich erworben wurde; es wäre doch naiv zu glauben, dass westliche Wertvorstellungen türkische Oberschichten nicht schon erreicht hatten, bevor Emigrationswellen auf das Abendland hereinbrachen – und der perfekten Handhabung der Deutschen Sprache zu gelegentlichem Spott und Hohn führten. Dennoch konnte gerade diesem jungen Mann, war er doch, wie man sagt, aus gutem Hause entstammend zum Bildungsbürger avanciert, dennoch konnte also gerade diesem jungen Mann nicht nachgesagt werden, er sei im sozialen Brennpunkt aufgewachsen, habe es im Leben schwerer gehabt als andere, wobei hier natürlich bereits aus Gründen der Fairness anzumerken ist, dass wohl kaum jemand das eigene Dasein als leicht empfinden wird, mehr noch, dass Unglück nicht mit den jeweiligen Lebensumständen korrespondieren muss, und dass, schließlich, Unglück überhaupt keine messbare Größe darstellt, womit freilich ein Vergleich verschiedener Unglückszustände von vornherein unsinnig ist.
Yilmaz jedenfalls war schon lange von seinem Unglück überzeugt, und er war sich auch, entgegen jeder vernünftigen Überlegung, der Besonderheit und der überdurchschnittlichen Tragik seines spezifischen Lebens gewiss. Diese Gewissheit unter den Leidenden der am Leidenschaftlichsten Leidende zu sein, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, der Glaube, ein ganz persönliches, privates und unteilbares Leid erdulden zu müssen die Grundfeste seines Daseins. Zeit seines Lebens stand er sich selbst als Auserwählter gegenüber. Erklärungen hierfür gab es viele: seiner besonderen Intelligenz verdanke er auch eine besondere Klarsicht, die ihn schließlich auch in die Niedergeschlagenheit trieb; sein Herkommen, sein kulturelles Erbe mache ihn zum Fremden, auch wenn er nicht wirklich fremd ist, so fühle er dennoch, dass er irgendwie anders, irgendwie speziell war; seine spezifische Genstruktur sei letzten Endes verantwortlich dafür, dass sein Gehirnstoffwechsel nicht ausreichend Glückshormone ausschütte.
Gemeinsam war diesen Theorien über die Ursprünge des Unglücks jedenfalls die Besonderheit, die Jeweiligkeit seines Zustands, die ihn zum Auserkorenen machte, zum einzelnen Schicksalskämpfer, dessen untragbarer Zustand nur ihm selbst bewusst ist. Eine solche Subjektivitätsmetaphysik der Besonderheit, des Auserwähltseins und damit der absoluten Individualität kann freilich nur einem Abendländer bzw. einem monotheistischen Weltbild zugerechnet werden. Überhaupt ist die Individualität eine westliche Streitmacht im Kampf der Kulturen – eine höchst erfolgreiche Streitmacht, wie sich heute zeigt, deren Ursprung womöglich der perfide Prophetismus selbst ist, der uns seit Jahrtausenden östlich des Bosporus im Mohammedanismus, westlich davon im Katholizismus, umtreibt.
In solchen zutiefst geschichtsphilosophischen Gedanken verfängt sich Yilmaz allerdings nicht. Dennoch schleichen sich seit geraumer Zeit Zweifel in die Grundfeste seines Daseins ein. Schließlich hat ihm das Schicksal nicht selten einen Gefallen getan. Angst vor der Autorität hatte er zu seinem Glück zur richtigen Zeit – in der Schule war er ein fleißiger, ein braver Schüler. Sein Bruder hatte dieses Glück nicht. Heutet fürchtet er das Leben. Ohne Ausbildung und besondere Talente ist die westliche Welt tatsächlich zum Fürchten: der Durchschnitt, der wir alle sind, will niemand sein. Yilmaz hat das geschafft – was Einkommen, Erfolg und Ansehen betrifft, ragt er aus der Mittelmäßigkeit: Matura mit Auszeichnung, Jusstudium in Mindestzeit, mittlerweile führt er eine eigene – die erste türkische – Rechtsanwaltskanzlei in Wien, was ihm nicht nur im interkulturellen Rechtsverkehr eine herausragende und bedeutende Rolle zuschanzt, sondern darüber hinaus auch einen privaten türkischen Kundenstock verschafft, der enorm ist. Seine Partnerschaft funktioniert, auch wenn einer Hochzeit die Konfessionen und, vor allem, die konservativen Eltern seiner Freundin, im Wege stehen. Seine Kinder sind gesund.
So kommt es, dass Yilmaz vor seinem Spiegel erschreckt: der Grund seines Unglücks, und damit der Grund seiner Grundfeste überhaupt, ist völlig unklar, mitunter ist sein Unglück sogar völlig grundlos, seine Grundfeste nicht mehr als eine weiche, sumpfige Oberfläche. Ja, so dämmert Yilmaz, vielleicht ist sein ganzes Unglück nicht mehr als Einbildung. Vielleicht, so die Stimme im Kopf, die einmal Deutsch und einmal Türkisch mit ihm spricht, vielleicht ist dieses Unglück nichts als eine Illusion, vielleicht glaubst du nur, unglücklich zu sein, vielleicht bist du es gar nicht.
Aus anderen Augen hat er noch nicht herausgeschaut, aus anderen Hirnwindungen noch nicht herausgedacht: woher also die Anmaßung zu wissen was es heißt, unglücklich zu sein? Eine ganze Individualität, eine ganze Persönlichkeit auf einem solchen durch und durch vagen und unklaren Begriff aufzubauen, ein ganzes Leben der Überzeugung des eigenen Unglücks anhängen ohne zu wissen, woher diese Überzeugung kommt, ohne zu wissen, was Unglück überhaupt bedeuten soll – war das nicht die reinste Anmaßung?
Vielleicht, so dämmerte Yilmaz plötzlich, war sein ganzes Unglück nichts als Strategie, nichts als eine Rolle, die er so gut spielte, dass er sie sich selber glaubte. Tatsächlich, so seine Überlegung, ging ihm doch das Leben verdächtig leicht von der Hand, vielleicht war es das Mitleid seiner Mitmenschen, die ihm sein Unglück ebenso glaubten, wie er es sich schließlich selber glaubte. Eine Rolle, seit frühester Kindheit einstudiert, die dem Selbst zum verwechseln ähnlich sah.
Mit solchen oder ähnlichen Gedanken verließ Yilmaz heute morgen das Haus am Stadtrand des neunzehnten Wiener Gemeindebezirks, setzte sich in sein Auto und ging zur Arbeit, wie er es jeden Tag tat.
Als Sohn türkischer Emigranten - sein Vater war auf den Spuren des Sultans Mehmed IV. in der ehemaligen Residenzstadt zu Wien stecken geblieben, hatte sich am Institut für Orientalistik der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät beworben und prompt eine Berufung für türkisch-europäische Geschichte erhalten - war Yilmaz freilich in gewisserlei Hinsicht tatsächlich benachteiligt gewesen. Auch wenn niemand ernsthaft bezweifeln würde, dass Yilmaz ein kulturell assimilierter Türke war, der zwar, aufgrund der Bildung des Vaters seine eigenen Wurzeln kannte, allerdings längst nicht mehr nach denselben lebte, so konnte doch niemand die biologische Tatsache mindern, dass Yilmaz nicht aussah wie seine Klassen- und Schulkollegen, später seine Universitätskommilitonen, eine Tatsache, die trotz der westlichen Lebenseinstellung, dem säkularen Weltverständnis – das übrigens nicht erst in Österreich erworben wurde; es wäre doch naiv zu glauben, dass westliche Wertvorstellungen türkische Oberschichten nicht schon erreicht hatten, bevor Emigrationswellen auf das Abendland hereinbrachen – und der perfekten Handhabung der Deutschen Sprache zu gelegentlichem Spott und Hohn führten. Dennoch konnte gerade diesem jungen Mann, war er doch, wie man sagt, aus gutem Hause entstammend zum Bildungsbürger avanciert, dennoch konnte also gerade diesem jungen Mann nicht nachgesagt werden, er sei im sozialen Brennpunkt aufgewachsen, habe es im Leben schwerer gehabt als andere, wobei hier natürlich bereits aus Gründen der Fairness anzumerken ist, dass wohl kaum jemand das eigene Dasein als leicht empfinden wird, mehr noch, dass Unglück nicht mit den jeweiligen Lebensumständen korrespondieren muss, und dass, schließlich, Unglück überhaupt keine messbare Größe darstellt, womit freilich ein Vergleich verschiedener Unglückszustände von vornherein unsinnig ist.
Yilmaz jedenfalls war schon lange von seinem Unglück überzeugt, und er war sich auch, entgegen jeder vernünftigen Überlegung, der Besonderheit und der überdurchschnittlichen Tragik seines spezifischen Lebens gewiss. Diese Gewissheit unter den Leidenden der am Leidenschaftlichsten Leidende zu sein, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, der Glaube, ein ganz persönliches, privates und unteilbares Leid erdulden zu müssen die Grundfeste seines Daseins. Zeit seines Lebens stand er sich selbst als Auserwählter gegenüber. Erklärungen hierfür gab es viele: seiner besonderen Intelligenz verdanke er auch eine besondere Klarsicht, die ihn schließlich auch in die Niedergeschlagenheit trieb; sein Herkommen, sein kulturelles Erbe mache ihn zum Fremden, auch wenn er nicht wirklich fremd ist, so fühle er dennoch, dass er irgendwie anders, irgendwie speziell war; seine spezifische Genstruktur sei letzten Endes verantwortlich dafür, dass sein Gehirnstoffwechsel nicht ausreichend Glückshormone ausschütte.
Gemeinsam war diesen Theorien über die Ursprünge des Unglücks jedenfalls die Besonderheit, die Jeweiligkeit seines Zustands, die ihn zum Auserkorenen machte, zum einzelnen Schicksalskämpfer, dessen untragbarer Zustand nur ihm selbst bewusst ist. Eine solche Subjektivitätsmetaphysik der Besonderheit, des Auserwähltseins und damit der absoluten Individualität kann freilich nur einem Abendländer bzw. einem monotheistischen Weltbild zugerechnet werden. Überhaupt ist die Individualität eine westliche Streitmacht im Kampf der Kulturen – eine höchst erfolgreiche Streitmacht, wie sich heute zeigt, deren Ursprung womöglich der perfide Prophetismus selbst ist, der uns seit Jahrtausenden östlich des Bosporus im Mohammedanismus, westlich davon im Katholizismus, umtreibt.
In solchen zutiefst geschichtsphilosophischen Gedanken verfängt sich Yilmaz allerdings nicht. Dennoch schleichen sich seit geraumer Zeit Zweifel in die Grundfeste seines Daseins ein. Schließlich hat ihm das Schicksal nicht selten einen Gefallen getan. Angst vor der Autorität hatte er zu seinem Glück zur richtigen Zeit – in der Schule war er ein fleißiger, ein braver Schüler. Sein Bruder hatte dieses Glück nicht. Heutet fürchtet er das Leben. Ohne Ausbildung und besondere Talente ist die westliche Welt tatsächlich zum Fürchten: der Durchschnitt, der wir alle sind, will niemand sein. Yilmaz hat das geschafft – was Einkommen, Erfolg und Ansehen betrifft, ragt er aus der Mittelmäßigkeit: Matura mit Auszeichnung, Jusstudium in Mindestzeit, mittlerweile führt er eine eigene – die erste türkische – Rechtsanwaltskanzlei in Wien, was ihm nicht nur im interkulturellen Rechtsverkehr eine herausragende und bedeutende Rolle zuschanzt, sondern darüber hinaus auch einen privaten türkischen Kundenstock verschafft, der enorm ist. Seine Partnerschaft funktioniert, auch wenn einer Hochzeit die Konfessionen und, vor allem, die konservativen Eltern seiner Freundin, im Wege stehen. Seine Kinder sind gesund.
So kommt es, dass Yilmaz vor seinem Spiegel erschreckt: der Grund seines Unglücks, und damit der Grund seiner Grundfeste überhaupt, ist völlig unklar, mitunter ist sein Unglück sogar völlig grundlos, seine Grundfeste nicht mehr als eine weiche, sumpfige Oberfläche. Ja, so dämmert Yilmaz, vielleicht ist sein ganzes Unglück nicht mehr als Einbildung. Vielleicht, so die Stimme im Kopf, die einmal Deutsch und einmal Türkisch mit ihm spricht, vielleicht ist dieses Unglück nichts als eine Illusion, vielleicht glaubst du nur, unglücklich zu sein, vielleicht bist du es gar nicht.
Aus anderen Augen hat er noch nicht herausgeschaut, aus anderen Hirnwindungen noch nicht herausgedacht: woher also die Anmaßung zu wissen was es heißt, unglücklich zu sein? Eine ganze Individualität, eine ganze Persönlichkeit auf einem solchen durch und durch vagen und unklaren Begriff aufzubauen, ein ganzes Leben der Überzeugung des eigenen Unglücks anhängen ohne zu wissen, woher diese Überzeugung kommt, ohne zu wissen, was Unglück überhaupt bedeuten soll – war das nicht die reinste Anmaßung?
Vielleicht, so dämmerte Yilmaz plötzlich, war sein ganzes Unglück nichts als Strategie, nichts als eine Rolle, die er so gut spielte, dass er sie sich selber glaubte. Tatsächlich, so seine Überlegung, ging ihm doch das Leben verdächtig leicht von der Hand, vielleicht war es das Mitleid seiner Mitmenschen, die ihm sein Unglück ebenso glaubten, wie er es sich schließlich selber glaubte. Eine Rolle, seit frühester Kindheit einstudiert, die dem Selbst zum verwechseln ähnlich sah.
Mit solchen oder ähnlichen Gedanken verließ Yilmaz heute morgen das Haus am Stadtrand des neunzehnten Wiener Gemeindebezirks, setzte sich in sein Auto und ging zur Arbeit, wie er es jeden Tag tat.
ledsgo - 2. Dez, 18:24