Donnerstag, 22. März 2012

Gedanken an Kant.

Ich sitze vor der Universität. Im so genannten Votivpark tummeln sich die ersten einsichtigen Studenten, solche nämlich, die schon beim zweiten Vorlesungstermin die Zwecklosigkeit ihrer Anwesenheit überzuckert haben und also - man sieht sie ja nur selten - die Sonne genießen. Auch solche, sage ich mir, werden darunter sein, die einfach faul und also von vornherein terminlos sind. Der Park aber vor der Universität ist einer, der zumindest in die Sphäre des Studentischen rührt und damit auch bevorzugt von solchen Studenten aufgesucht wird, die nicht die Frustration aus der Uni, sondern vielmehr die Faulheit nur bis vor die Uni treibt. Einerlei: kaum scheint die Sonne, treibt es den Menschen ins Freie. So auch mich, natürlich. Ich aber bin in akademischer Mission unterwegs, muss ich mir doch die Frage stellen, wie es zu einer Wahrnehmung kommen kann. Dazu muss zunächst aber einmal geklärt werden, was "die Wahrnehmung" überhaupt ist. Denn: wie soll jemand erklären, wie es zu einem Haus kommt, wenn dieser jemand gar nicht weiß, was ein Haus ist? Der Analogieschluss liegt auf der Hand.

In Erfüllung meiner Mission hat mich mein Auftraggeber - ein amerikanischer Gastprofessor, ein gewisser. Dr. Gaukler (gesprochen naturgemäß Goukler) - angewiesen, den ehrenwerter Bertrand Russell zu studieren. In meinem Liegestuhl in der Sonne sollte das dicke Russellbuch meine studentische Mission untermauern, denn freiwillig liest nun wirklich niemand Russell. Mag einer den Marx zum Vergnügen lesen, meinetwegen auch den Nietzsche. Aber den Russell hat noch keiner aus Spaß an der Freude aufgemacht, eher noch aus Spaß am Unglück oder der paradoxen Freude am Leid.
Unsere Wahrnehmungen sind laut Russell "Sensations" - Empfindungen - die uns durch "sense data" unmittelbar bewusst werden. Diese "sense data" werden in "Propositions" gewandelt, und unsere Gedanken sind schließlich nichts anderes als diese Propositionen. Vom Sinnesdatum,das unmittelbar bewusst ist, kommt also eine Empfindung in uns auf, die schließlich durch das Gehirn in eine Proposition - einen Aussagesatz wie "Es ist warm" - verwandelt wird. Und das ist nach Russell Wahrnehmung. Das auch Kant dies so sieht, beweist eine Fußnote.

Nun, sage ich mir: eine schöne Geschichte. Allerdings frage ich mich, woher zum Teufel der Bertrand das eigentlich wissen will - einmal ganz abgesehen davon, dass er es vom Kant weiß, denn auch den guten alten Kant könnte man ja fragen: Kant, woher zum Geier willst gerade DU wissen, was eine Wahrnehmung ist? Wenn nämlich so ein ingeniöser "Günstling der Natur" in ein Buch hineinschreibt, dass die Wahrnehmung eine Empfindung,von Sinnesdaten ausgelöst und in Propositionen transformiert ist, dann kann ich genauso behaupten, dass das ein Unsinn ist. Mir wird das freilich keiner glauben, ich bin ja auch kein Kant. Aber dass der Kant das weiß, was er weiß, das glaubt ihm jeder.
Aber könnte man nicht genauso gut sagen Die Wahrnehmung ist etwas, das von etwas ausgelöst und in etwas anderes transformiert wird? Freilich, man könnte, denn: was eine Empfindung, ein Sinnesdatum (gibt es ein einzelnes Sinnesdatum überhaupt? Kann man ernsthaft glauben, jemand habe gerade das Sinnesdatum "Kaktus", oder auch nur "grün" im Auge?), eine Proposition ist, ist ja mindestens so unklar wie die Wahrnehmung selbst.
Kritisch durchleuchten sollte man das, denke ich mir, so wie die Sonne meine Brille durchleuchtet, und mein T-Shirt. Langsam aber sicher trifft sie auf meine Netzhaut, immer fester, sodass ich die Augen zukneifen, letztlich ganz schließen muss. Einen Augenblick nur keine Blicke, einen Augenblick geschlossene Augen und schon werden zwei daraus und drei und das Ende jeder Wahrnehmung und auch keine Proposition lässt sich mehr fassen und schon sind Bilder im Kopf vorhanden vom letzten Frühling...

Mit hochrotem Kopf wache ich auf, weil die Sonne weg ist: wie ein Philosoph, der sich stundenlang die 3. Antynomie vergegenwärtigen muss und doch zu keinem Entschluss kommt sehe ich aus, vielleicht auch wie ein Wutbürger, der den Grasser aus der Straßenbahn erblickt: meine Kopfesröte aber ist im Vergleich zu den Genannten kein Resultat frustrierenden Denkens, sondern eines des gelassenen Sonnengenusses und nicht zu unrecht scheint die Philosophie der Antike auf diesen Müßiggang, der mit dem Philosophieren immer schon einherging, aufmerksam zu machen: wenn sie uns schon keine Lust bereitet, dann zumindest Schlaf - und wer schläft schon ruhiger und besser als jemand, der ein paar Seiten Kant oder Russell gelesen hat?

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