Eine Begegnung im Vorbeigehen.

Heute habe ich, wie man zu sagen pflegt, eine alte Bekannte getroffen. Die – nennen wir sie S – hat mir, eben so unverhofft wie unverblümt, von hinten auf die Schulter getippt, während ich gerade mit dem S telefoniert hat, der paradoxerweise die S auch kennt, aber, genau wie ich, selbige auch schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Auf einmal steht also am Schottentor – quasi dem Tor zur Weisheit, weil eben unsere Alma Mater, die Universitatis Viennensis an besagtem Tore fußt – die S hinter mir und grinst mir frech ins Gesicht, während ich dem S ins Telefon stottere, dass ich ihn später zurückrufen müsse.
„Servus“, sagt die S in legerem Ton, „wie geht’s dir denn, wir ham´ uns ja ewig nicht mehr gsehn.“
„Ja“, sag ich, es sei wirklich schon ewig her, und dass es mir eigentlich gut gehe. Dabei betone ich selbstverständlich das „eigentlich“, weil es eigentlich gerade und nur um dieses „eigentlich“ geht. Dieses eigentlich unterstreicht nämlich nicht nur, dass es einem gut geht, sondern eröffnet zugleich einen Möglichkeitsraum für das Gegenüber – in diesem Fall also für die S – der etwas geheimnisvoll, wenngleich aber auch wieder mitmenschlich solidarisch wirkt, weil – seien wir uns ehrlich – so richtig gut geht es uns nur selten, und jeder kennt den Zustand des Eigentlich-gut-gehens viel besser als den des Richtig-gut-gehens. Jetzt kann sich die S durch dieses „eigentlich“ gleich zwei interessante Fragen stellen: Einmal, warum es mir nur eigentlich, und nicht richtig gut geht, und dann noch einmal, ob es ihr selber richtig, oder aber nur eigentlich gut geht. Das kann sie vor allem, weil ich ja dem Anstande halber die Frage an sie, die S, retournieren muss und deshalb eben auch sie frage, ob es ihr denn gut gehe.
„Ja“, sagt sie, bei ihr passe eigentlich eh alles. Auch sie ist offensichtlich ein Opfer der Eigentlichkeit, auch sie eine Frau, denke ich mir, der es eigentlich, aber nicht so richtig gut geht. Man könnte ja auch einfach sagen, dass es einem schlecht geht, aber das Schlecht-gehen ist ja heutzutage ein sogenanntes Tabu. Es gehört ja – vor allem bei Bekanntschaften aus fernster Vergangenheit – zum guten Ton, eine fröhliche Miene aufzusetzen und selbst nach schlechten Tagen noch darauf zu bestehen, ein wunderbar fröhliches Leben zu führen, weil das einem wenn nicht der Stolz, so doch zumindest die Gesprächskultur gebietet. Wir wollen heutzutage einfach nicht mehr mit dem Unglück konfrontiert werden, und wir wollen es, wenn es uns doch einmal packt, nicht herzeigen, unser Unglück. Deshalb geht es uns nie richtig, sondern immer nur eigentlich gut, das erlaubt nämlich nicht nur, darauf zu beharren, an und für sich zu denen zu gehören, mit denen es das Leben gut gemeint hat, sondern das erlaubt noch vielmehr die Möglichkeit, dass es trotz unseres Eigentlich-gut-gehens immer noch besser sein könnte – was uns gewissermaßen vom Eindruck des Lügens befreit. Mit diesem eigentlich, denke ich mir, müssen wir gar nie wirklich sein, weil das Eigentlich-gut-gehen in Wirklichkeit überhaupt nichts heißt.

Was ich denn immer so mache, fragt mich die S. Ich weiß nicht, warum sie mich so anstrahlt: dass sie sich wirklich freut, mich zu sehen, kann ich mir nicht vorstellen, warum sollte sie? Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen und selbst vorher war unsere Bekanntschaft eine sporadische, deren Intensivierung weder von mir, noch von ihr jemals ernsthaft angestrebt wurde. Ich erzähle ihr, von einer Welle des Enthusiasmus getragen – die Sonne scheint durch die Pfeiler der U-Bahn-Station in die Passage herein und ich freue mich zusehends darauf, diese wieder zu verlassen – dass ich eigentlich nur auf dem Weg zu meinem Rad sei, weil ich dieses gestern neben einem von mir sehr geschätzten Irish Pub habe stehen lassen müssen, weil man ja betrunken und ohne Licht nicht mehr durch Wien fahren soll. Dabei lächelt die S – vielleicht mag sie mich ja doch ein wenig, aber ich weiß es nicht und es ist mir auch egal.
„Fleißig“, wirft sie ein, die S, und ich verstehe nicht. „Na das Radlfahren“, sagt sie. Sie sei immer zu faul im Endeffekt mit dem Rad zu fahren und nehme dann, der Gemütlichkeit halber, die Bim oder die U-Bahn. Ich verstehe nicht, was an einer Bimfahrt im stickigen Wiener Sommer gemütlich sein soll, aber der zwanghafte Charakter des Gespräches sowie mein Desinteresse an einer Diskussion über das Radfahren überwiegen, sodass ich nur einwerfe, dass es eigentlich schon ganz fein und angenehm sei, das Radfahren, wenn man sich einmal überwunden hätte. „Damit“, denke ich mir, „hast du alle Möglichkeiten offen gelassen und kommst sowohl der Radfahrfaulheit als auch dem Radfahrenthusiasten ein Stück weit entgegen, weit genug jedenfalls, um einen Konsensus herzustellen, der eine Diskussion im Keim erstickt.“
Selbstzufrieden blicke ich die S an, während oben geschilderter Gedanke mir durch den Kopf wandert. Dabei überhöre ich, dass die S schon längst wieder irgendwas redet und bemerke erst spät, dass sie tatsächlich am Radfahren festhält. Sie redet irgendwas von Fitness, Gesundheit und der Umweltverschmutzung. Mich interessieren ihre Ausführungen zwar wenig, ich weiß aber auch nicht, wie ich ihnen entkommen soll, weshalb ich schließlich mein Handy aus der Tasche hole, beschäftigt auf das Display blicke, dann ein kurzes Kopfschütteln andeute und in das Handy hineinzureden beginne. Verlegen bedeute ich der S – obwohl ich gar keine Uhr trage – mit einem Blick auf meinen Unterarm, dass ich es eilig habe, weil ja bekanntermaßen mein gesundheits- und vor allem umweltförderndes Fahrrad auf mich warte. Die S sagt noch leise, dass sie sich freue, mich wieder einmal gesehen zu haben und auch ich deute an, dass es mir ähnlich ginge, was freilich ebenso erlogen war wie der Telefonanruf, die Uhr und die Eile. Nichtsdestoweniger schreite ich aus der U-Bahn-Passage in die Sonne hinaus, muss ob der Absurdität unseres Gespräches – wie kommt man darauf, nach einigen turbulenten Jahren im Leben zweier junger Menschen über das Fahrradfahren in Wien zu sprechen? - ein wenig in mich hineinlachen und erfreue mich dann dem Anblick meines Rades, weil es ja nicht selbstverständlich ist, dass ein solches Rad nach einer Übernachtung im Freien noch dort steht, wo es auch soll. Ich erblicke auch, dass das Irish-Pub den Gastgarten bereits offen hat, und denke mir, dass ein Bier jetzt eigentlich fein wäre. Ich setze diesen Gedanken prompt in die Wirklichkeit hinein, setze also mich zugleich in den Gastgarten hinein und bestelle mir ein Weißbier. Dabei denke ich mir, dass es mir wirklich, und nicht nur eigentlich, gut geht, auch wenn dass die S jetzt nicht mehr mitbekommt. Ich denke mir dann, dass es mit den Gesprächen über das Radfahren vielleicht ein bisschen so ist, wie mit dem Gedanken, jetzt schnell ein Bier in der Sonne zu trinken: auf solche Dinge kommt man eigentlich nicht, sie passieren einem. Ich nehme dann einen Schluck Bier und die S ist mir plötzlich sympathisch, weil ich mir vorstelle, wie sie sich in ihrer Verlegenheit auf ein Gespräch über das Fahradfahren fixieren muss, weil ihr auf die Schnelle nichts besseres eingefallen ist. Aber nur wenig später ist die S schon wieder aus meinen Gedanken verschwunden, so plötzlich, wie sie vorhin aufgetaucht war, weil mich auf einmal wirklich der S anruft und fragt, ob ich ein Bier trinken will. Und dann ist er gekommen, der S, und er ist wie immer geblieben. Auch mit dem S, denke ich mir, werde ich irgendwann einmal so blödsinnige Sachen geredet haben, früher, als wir uns noch nicht wirklich kannten, wie vorhin mit der S.
Eigenartig, denke ich mir, wie einem manche Menschen bleiben und andere nicht. Aber auch das, glaube ich, machen wir nicht wirklich, auch das, glaube ich, passiert uns eigentlich.

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