Dr. Kent fährt Schi
Dr. Kent, seinerseits Ordinarius am altehrwürdigen Kingshill College, dessenthalben aber keineswegs eine ordinäre Erscheinung , ist ein Mensch mit habituellen Eigenarten. Angesichts der Tatsache, dass er der Fachwelt nicht lediglich ein Begriff, sondern so etwas wie das schillerndste lebende Aushängeschild seiner Profession darstellt, wird auf universitären Fluren und ebenso in universitären Cafes viel über den alten Mann gemunkelt. Dass er als Mensch mit Liebe zur Systematik gilt, lässt sich nicht nur an seinem Schaffen erblicken. Auch die kursierenden Anekdoten über seine Essens- und Schlafgewohnheiten deuten auf einen Menschen mit Hang zur Akribie. So soll Kents Frau selbst erzählt haben, dass es ihr in 30 Jahren Ehe nicht gelungen sei, ihren Mann auch nur ein einziges Mal zu dessen Befriedigung zuzudecken. Sie wisse wohl, dass sich hinter den Schlafgewohnheiten ihres Mannes eine besondere Form der Bettlakenanordnung verberge; lediglich habe sich ihr das dahintersteckende System, die Ordnung der Laken an sich, noch nie geäußert, die Anordnung der einzelnen Decken, so sagt sie, bleibe unbekannt.
Auch das Essen sei für Kent alles andere als bloße Befriedigung niederer Triebe. Vielmehr, so sagen es die Kollegen, die ihn kennen und das Glück hatten, an seiner Seite zu forschen, sei auch beim Essen ein ordnendes Prinzip oberste Maxime, so dass Kent nicht nur zu festgelegten Zeiten, sondern auch nach einem festgelegten Speiseplan diniere. Er selbst soll, wenn es einmal ganz und gar systemwidrig dazu kam, dass er seine Uhr - denn nur diese zeige die wahre Zeit - zuhause vergaß, auf das Essen ganz verzichtet haben. Auf die Frage, ob er denn in solchen Momenten der chaotischen Verwirrung nicht den stärskten Hunger leide gesagt haben, dass er lieber sterbe, als in der Unordnung des Außergewöhnlichen zu versinken. Nur so lässt sich schließlich auch erklären, dass Kents Speiseplan der wochenzyklischste ist. Nichts würde schließlich die Gewohnheit mehr unterwandern, als zu große Zeitabstände. Eine wahrhafte Gewohnheit - und gerade um solche geht und ging es Kent stets - wiederhole sich zumindest wöchentlich, im besten Fall aber sogar täglich, soll er einmal gesagt haben.
Es darf daher auch nicht verwundern, dass Kent für seine Studiosi durchschaubar war. Nicht nur war nach einigen Semestern klar, wann und wo er anzutreffen sei; nein, auch die Lehrveranstaltungen und mit ihnen die Prüfungen sowie auch deren Fragen, verhielten sich nach einem strikten Muster. Diese Durchschaubarkeit war Kent durchaus bewusst, vielmehr noch war und ist sie ihm erwünscht. Seine Studenten sollten zumindest jene Punkte begreifen, die er immer wieder doziere. Usus est magister optimus, so der Leitspruch Kents, und diesen Leitspruch suche er eben nicht nur im akademischen Bereich tief zu verwurzeln, sondern auch in der praktischen Lebenskunst.
Dieser von der Vernunft so reich beschenkte Zeitgenosse hat die Jahre durchwandert wie eine tibetanische Gebetsmühle. Mit unerschütterlicher Gewissheit ist er der Philosophie als Leuchtfackel vorangeschritten und hat dabei nicht nur sich selbst, sondern auch dem Kingshill College jenen Weltrang eingeräumt, in dem es sich nun sonnt, als sei gleichsam dieses College allein der Ausgang aus Platons Höhle.
Umso erstaunlicher fiel mir dann - selbst weit davon entfernt, die Lehren Kents zu verstehen, nicht einmal sie zu lesen sehe ich mich imstande(!) - ein Schreiben des besagten Dr. Kent, Ordinarius des King Albert's Kingshill College, in die Hände. In ihm nichts geringeres als eine Bewerbung Kents.
Er, Dr. Kent - man würde ihn bei aller walten zu lassenden Bescheidenheit wohl ob seines vorauseilendes Rufes zumindest namentlich, wenngleich nicht inhaltlich, kennen - suche nach einer neuen Herausforderung. Die Umstände in seinem Heimatland würden ihm einen Verbleib angesichts der progressiven Entwicklung der Universitätslandschaft verunmöglichen, sohin er den Wechsel an unsere Bildungsstätte, die Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, erwäge. Im Anhang eine 6-seitige Bibliographie und ein Lebenslauf, indem nicht mehr aufschien als der Maturaabschluss, der Universitätsabschluss und die Berufung zum Professor, allesamt in Kingshill.
Meine erste Reaktion war naturgemäß die des Unglaubens. Kent hier an unserer Universität? Ich hielt das Schreiben zunächst für einen Scherz. Hoffnung aber machte sich dennoch in mir breit. Ein, wenn nicht sogar die Kapazität unserer Tage, gerade sie sollte es nach Wien verschlagen. Gelegentlich spielt das Schicksal Einem in die Karten: unmöglich, so sagte ich mir, sei es nicht, wenngleich unwahrscheinlich, dass er tatsächlich komme. Nichtsdestotrotz lag es nun selbstverständlich an mir, die nötigen Schritte einzuleiten, gerade an mir, einem unbedeutenden Assistenten in Wien, der Kent noch nicht einmal gelesen, geschweige denn verstanden, hat. Sofort griff ich zum Telefonhörer, wählte die Nummer meines Doktorvaters. Auch er gab sich zunächst reserviert. Ob ich mir sicher sei, fragte er, ob ich mir ganz sicher sei. Nun, sagte ich, auch ich könne nicht für die Echtheit der Schrift bürgen, allerdings mache sie einen seriösen Eindruck.
Am nächsten Morgen – die sofortige Erledigung der Angelegenheit würde die bürokratischen Wege hierzulande überstrapazieren – hatte man sich früh verabredet. Nicht nur ich und mein Doktorvater, sondern auch der Dekan persönlich samt einem Schriftbildspezialisten fanden sich in meinem Bürokämmerchen ein, um den Sachverhalt zunächst zu besprechen. Mein Doktorvater hielt dieses Vorgehen für das sicherste: ich solle, sagte er, die Bewerbung keinesfalls mit nachhause nehmen, andernfalls die Verlustgefahr eine zu hohe wäre. Besser wäre es, sie in meinem Schreibtisch zu versperren und morgen früh eine Besprechung folgen zu lassen. Zuerst trafen der Dekan und mein Doktorvater in meiner Kammer ein, beide leicht nervös und begierig, das besagte Dokument in Händen zu halten. Nach kurzer Lektüre befand der Dekan – im Gegensatz zu mir und vielen anderen Philosophen, soll er Kent nicht nur verstanden, sondern auch gelesen haben und deshalb die wahre Bedeutung Kents tatsächlich abschätzen können - , dass es das Beste wäre, zunächst auf den Schriftbildspezialisten zu warten; dieser habe bereits andere handschriftliche Texte Kents, die ohne Zweifel seiner Feder entsprungen waren, zum Abgleich vorbereitet. Es folgte eine bloß kurzer Unterredung zwischen dem Dekan und mir - angesichts der Bewerbung erschien sie uns wohl beiden als der reinste Austausch von Belanglosigkeiten. Danach traf der Experte auch schon ein. Er war ein wortkarger Mensch unscheinbarer Erscheinung, der wohl nicht ohne Grund das Lesen zu seiner Profession erhoben hatte. Wenige Minuten genügten, um die Echtheit der Schrift zu verifizieren. Erstaunt über sein rasches und definitives Urteil musste auch er sich die Frage meines Doktorvaters – ob er sich denn sicher sei – gefallen lassen. Er selbst, so der Schriftbildexperte, halte es ja mit den faktischen, empirischen Wissenschaft. Ihn interessiere nicht die Bedeutung, sondern die Erscheinung eines Textes. Deshalb könne er zu raschen, klaren Ergebnissen kommen, ganz ungleich uns Philosophen also, sagte er und verschwand ohne zu vergessen, seine Honorarnote am Tisch liegen zu lassen.
Der Dekan, der nicht nur Kenner, sondern auch Verfechter der Kent'schen Mortalphilosophie war, wirkte mit einem Mal verstört. Seine Stirn zeichneten tiefe Falten, seine Augen blickten fragend aus ihren Höhlen hervor. Selbst wenn, Selbst wenn, murmelte er mehrere Minuten lang vor sich hin, bis meinem Doktorvater die Geduld entschwand als wäre sich nichts als verbrauchte Luft, die aus den Lungen strömt. Selbst wenn was?, fragte er, sich leicht im Ton vergreifend. Nun, sagte der Dekan. Die Situation sei, wie so oft, eine verzwickte. Man könne einem Ansuchen Dr. Kents nur schwer ablehnen, handle es sich doch beinahe um ein brandoisches Angebot mit Kent als Paten. Aber selbst der Ruf Kents werde wohl nicht über Fakten disponieren können, die gegeben sind. Die finanzielle Situation sei eben denkbar schlecht. Und auch wenn Kents Mortalphilosophie auf Engste mit seiner Moralphilosophie verknüpft sei werde ein Lehrstuhl am Institut für Moralphilosophie erst in 3 Jahren frei; von einem Lehrstuhl für Mortalphilosophie, wie er in Kingshill für Kent eingeführt würde, könne man ja hier ohnehin nur träumen. Kurzum: nichts wäre für die Universität reizvoller, als einen Kent sein eigen nennen zu können, aber so reizvoll dies auch ist, ist es ebenso unfinanzierbar. Man werde das Angebot ablehnen müssen.
Enttäuscht, nicht aber unbedingt überrascht über diese Wendung – freilich wäre eine Berufung Kents hierzulande zu viel des Guten gewesen – fragte ich, ob ich ein Antowrt schreiben aufsetzen solle. Der Dekan und ebenso der Doktorvater aber reagierten gleichermaßen entsetzt. Ob ich noch bei Trost sei, fragte man mich, ob ich mir über den Einfluss Kents im gesamten philosophischen Bereich im Klaren sei? Ihn abzulehnen, ihn offiziell abzulehnen, das sei nichts geringeres als philosophischer Selbstmord! Kent habe schon viel Mitstreiter ruiniert und er werde, so sagten sie, auch uns, auch mich, das ganze Institut ruinieren, wenn man ihn offiziell ablehne! Es müsse ein anderes Vorgehen gewählt werden.
Die Zustände an den Universitäten, soll Kent zu der Zeit seiner Bewerbung immer wieder beklagt haben, seien allerorts die schlimmsten. Man lebe in einer Zeit, in der das höchste Gut selbst – der menschliche Geist – nichts mehr wert sei. Die Formung des Geistes, die Grundlegung menschlichen Verhaltens und die vernünftige Ausarbeitung von Prinzipien desselben habe man eingetauscht gegen ein schnelllebiges System, das nicht auf Wert, sondern auf Verwertung basiere. Er habe sich, soll er seinen Kollegen in Kingshill erzählt haben, nicht zu einem solchen Schritt entschlossen. Ein Entschluss, soll er gesagt haben, setze Alternativen voraus. Diese aber seien ihm nicht mehr gegeben, nicht mehr auf diese Art. Diese Umwälzung universitärer Strukturen hin zu pseudo-akademischen Graden sei geradezu ein Angriff auf die Professorenzunft und müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Schließlich sei er, Kent, aus Kingshill nie herausgekommen und könne ihn, Kent, aus Kingshill auch nichts anderes herausbewegen als der pure Zwang von innen. So wolle er nun nach Wien, in das altehrwürdige Wien, weil dort der Fortschritt schon immer mit Argwohn beäugelt wurde und dieser Argwohn gerade im universitären Bereich nichts anderes als moralisch geboten sei. Das studentische Niveau sei ohnehin ein ständiger Verfall, aber nun anstatt Magister- und Doktorarbeiten jemandem einen Bachelor zu verleihen, das sei die Spitze eines Eisbergs, der er, Kent, nicht mehr erklimmen werde.
Umso überraschender muss für Kent angesichts dieser Anekdoten gewesen sein, dass er gerade nicht nach Wien, sondern in eine kleine Seestadt im österreichischen Innergebirg eingeladen wurde, um dort über seine Stelle zu verhandeln. Der Dekan und, nach einigem Zögern auch mein Doktorvater, kamen nämlich zu dem Schluss, den alten Kent von sich aus zu einem Rückzug zu bewegen. Es sei, so der Dekan, allseits bekannt, dass Dr. Kent kein Freund der Aufruhr war. Dass er aus Königsberg noch nie herausgekommen war, habe guten Gründe: Kent verabscheue Veränderung. Ein Treffen im Innergebirge um die Winterszeit, das würde Dr. Kent, wie der Dekan sagte, das Kraut ausschütten. Nur selten gleitet der Dekan in solche Sprechweisen ab, nur selten, dann aber umso eindringlicher, legt er damit seine bäuerliche Natur offen. Man wolle dem Kent beim Schifahren zur Vernunft bringen, wolle ihm ein Österreich zeigen, das er wieder verlassen muss.
So erreichte Dr. Kent nur wenige Tage nach seinem Ansuchen ein von mir verfasstes Schreiben, in welchem man sich nicht nur erfreut zeige, sein Interesse geweckt zu haben, sondern ihn vielmehr zur alljährlichen Professuralkonferenz im Pinzgauer Innergebirge einlade, um ihm dort die außeruniversitären Gepflogenheiten der österreichischen Professoren näher zu bringen. Selbstverständlich gab es weder eine Professuralkonferenz noch sonstige außeruniversitäre Aktivitäten seitens der hiesigen Professoren, allerdings erhoffte man sich mit diesem Schritt, Kent davon zu überzeugen, hier nicht nur einen einmaligen, sondern einen regelmäßige wiederkehrenden Gebirgsalptraum miterleben zu müssen. Das Pinzgauer Innergebirg erschien hier nicht nur angesichts seiner Dunkelheit, sondern auch der unberechenbaren Schneemenge und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich dort ein akademischer Hotelier befindet, dessen Bekanntschaft man gemacht hat, als der geeignetste Ort für ein solches Treffen. Darüber hinaus war man sicher, im Pinzgauer Innergebirg mit dem hohen Gast kein allzu großes Aufsehen zu erregen, galt doch das Interesse der Bergischen immer schon mehr dem Wetter als den großen Geistern.
So kam es, dass sich Dr. Kent und die „Professuralkonferenz“ inmitten eines eisigen Februars am Fuße eines so genannten Grasberges wiederfanden, um über Dienstverträge und dergleichen mehr zu verhandeln. Die Professuralkonferenz bestand letzten Endes aus dem Dekan, der in seiner tatsächlichen Funktion auftrat, meinem Doktorvater als Vertreter der sonstigen Professoren, mir als Vertreter der zukünfigen Generation und schließlich noch dem Wirten selbst, der sich als Kommerzialrat der Universität und Verwalter der Universitätsgründe im Gebirge ausgab. Genauso, wie es eine Professuralkonferenz nicht gab, gab es freilich auch keinen universitären Kommerzialrat oder sonstige Grundstücke im Besitz der Universität – nicht einmal Interessensvertretungen kannte und kennt die Universität Wien bis heute, aber all das, nun: wie sollte es Dr. Kent erkennen – hier waren eben nicht mehr seine Gewohnheiten zuhause, hier fungierte ein anderer Usus als Magister Optimus, wie Kent bei seinem Eintreffen gleich feststellte.
Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, begab man sich zu Bett. Mit geradezu heimtückischer Absicht hatte der Dekan dem Kent ausdrücklich nur ein Bettlaken zukommen lassen, was der Wirt nur schweren Herzens billigte, wollte er doch seinen guten Ruf bei den Gästen nicht verlieren. Nachdem man ihn aber mit philosophischer Argumentation davon überzeugen konnte, dass Dr. Kent ohnehin kein zukünftiger Kunde sei, weil sein Herauskommen aus Kingshill als absoluter Ausnahmefall gelten müsse, zeigte sich dieser einverstanden und verweigerte Kent vehement, weitere Bettlaken auszuhändigen. Man müsse sich, so der Wirt, im Gebirge und in Österreich überhaupt mit dem Begnügen, was vorhanden sei, und selbst wenn die Höflichkeit und damit ein Ausfluss der Moral selbst gebiete, Kent weitere Decken zukommen zu lassen, so könne dies schon aus empirischen Gründen nicht geschehen, weil es schlichtweg an solchen Decken mangle. Es sei sogar die höchste Form der Unmoral, ihn – Kent – hier gegenüber anderen Gästen zu bevorzugen, müsse doch die Gleichheit aller Menschen als allgemeines Gesetz anerkannt bleiben. Sichtlich zufrieden mit dieser Argumentation, weniger aber mit dem Deckenmangel, fand sich Kent mit seiner Situation ab.
Am nächsten Morgen oblag es mir, Kent in den Tag zu holen. Ein großes Prozedere war hierfür nicht nötig, hatte Kent doch, wie er sagte, ohnedies kein Auge zugemacht. Umso erfrischender würde da die Bergluft wirken, sagte ich und deutete auf ein Paar Schi, die, wie er sogleich verstand, für ihn gedacht waren. Sofort machte sich in den Zügen Kents Unruhe breit. Nicht nur fehle ihm im Schifahren jede Routine, jede Übung, auch halte er das Schifahren an sich für eine höchst unvernünftige Tätigkeit. Der schifahrende Mensch, sagte Kent, sei nichts weniger als entartet, verliere daher jede Vernunft und damit auch jede Würde. Vorbereitet auf solche Einwände entgegnete ich Kent, dass es sich beim Schifahren hierzulande um eine Dienstpflicht handle, weshalb er sich darin werde üben müssen.
Mit jedem Meter, den wir den Berg höher hinaufstiegen, steigerte sich auch das Kentsche Unbehagen. So nahe am Himmel sei der Mensch nicht mehr an seinem Platz sagte er, wenngleich die Aussicht die erhellendste sei. Am Gipfel angelangt nötigte man ihn, einen Gipfelstürmer – ein abscheulicher Schnaps, den der Wirt normalerweise seinen „Stammgästen“ vorbehalt, weil ihn freiwillig ohnehin niemand kauft – zu trinken. Er war tatsächlich bemitleidenswert inmitten dieser intrigären Runde, und doch war sich diese sicher, nicht nur das Richtige, sondern gar das Gebotene zu tun. Eigenartigerweise aber schien der Schnaps eine geradezu wohltuende Wirkung auf Kent, der, wie er sagte, gewöhnlich überhaupt nicht trinke, zu haben. Sein gebetsmühlenartiges Dasein verbiete ihm, dem Alkohol zu fröhnen, aber ebenso, wie er zum ersten Mal aus Kingshill herausgekommen sei, war es wohl auch an der Zeit, aus seinem sonstigen Trott zu auszubrechen. Und so zeichnete sich auf Kents Gesicht, der zeitlebens der größte Verfechter der Vernunft gewesen ist, ein spitzbübisches Lächeln ab, wie es nur Menschen haben, die mit dem größten Tatvorsatz Unvernünftiges tun. Mit jenem spitzbübischen Lächeln hatte sich Kent anschließend die Schier angeschnallt, und nach ein, zwei Probeschwüngen das Wesen des Schilaufens durchschaut. So fuhr er, freilich unbeholfen, aber doch nicht ohne Grazie, den Bergbuckel mit uns hinunter, etwas langsam zwar und mit der Vorsicht eines Denkers, aber alles andere als ungeschickt.
Am Abend aber, die „Professuralkonferenz“ hatte zuvor noch im Geheimen getagt und sich angesichts des vergnügt wirkenden Kents besorgt gezeigt, verlangte Kent zum Essen Bier und Schnaps, ließ sich anschließend sogar noch auf ein Kartenspiel samt Gipfelstürmern mit den Stammgästen ein. Am nächsten Morgen schlief der Kent bis in die Mittagsstunden, sodann machte er sich auf eigenen Faust auf den Weg ins Gebirge. Als wir Kent Stunden später nirgends auffinden konnten, durchsuchten wir sein Zimmer. Es war leergeräumt, nur ein Zettel lag auf dem Bett. Er, Kent, habe kein Interesse mehr an einer Professur, auch nicht an der Philosophie selbst. Er wolle sich nun niederlassen, irgendwo hier im Gebirge, und seinen Lebensabend genießen, fernab von den großen Problemen des Geistes, die immer verschwinden, wenn er den Gipfel stürmt oder Gipfelstürmer trinkt. Er sei nun vielmehr auf dem Gipfel der menschlichen Erkenntnis angelangt und wünsche, nicht mehr gestört zu werden.
Verwundert, aber doch auch zufrieden, reiste die Professuralkonferenz zurück nach Wien. Von Kent aber fehlt bis heute jede Spur. Im Gebirge will man ihn nicht gesehen haben, von den Universitäten hält er sich fern. Was übrig bleibt sind Anekdoten und Geschichten, Gerüchte und Legenden und ein Werk, dessen Gipfel bis heute nicht bestiegen wurde.
Auch das Essen sei für Kent alles andere als bloße Befriedigung niederer Triebe. Vielmehr, so sagen es die Kollegen, die ihn kennen und das Glück hatten, an seiner Seite zu forschen, sei auch beim Essen ein ordnendes Prinzip oberste Maxime, so dass Kent nicht nur zu festgelegten Zeiten, sondern auch nach einem festgelegten Speiseplan diniere. Er selbst soll, wenn es einmal ganz und gar systemwidrig dazu kam, dass er seine Uhr - denn nur diese zeige die wahre Zeit - zuhause vergaß, auf das Essen ganz verzichtet haben. Auf die Frage, ob er denn in solchen Momenten der chaotischen Verwirrung nicht den stärskten Hunger leide gesagt haben, dass er lieber sterbe, als in der Unordnung des Außergewöhnlichen zu versinken. Nur so lässt sich schließlich auch erklären, dass Kents Speiseplan der wochenzyklischste ist. Nichts würde schließlich die Gewohnheit mehr unterwandern, als zu große Zeitabstände. Eine wahrhafte Gewohnheit - und gerade um solche geht und ging es Kent stets - wiederhole sich zumindest wöchentlich, im besten Fall aber sogar täglich, soll er einmal gesagt haben.
Es darf daher auch nicht verwundern, dass Kent für seine Studiosi durchschaubar war. Nicht nur war nach einigen Semestern klar, wann und wo er anzutreffen sei; nein, auch die Lehrveranstaltungen und mit ihnen die Prüfungen sowie auch deren Fragen, verhielten sich nach einem strikten Muster. Diese Durchschaubarkeit war Kent durchaus bewusst, vielmehr noch war und ist sie ihm erwünscht. Seine Studenten sollten zumindest jene Punkte begreifen, die er immer wieder doziere. Usus est magister optimus, so der Leitspruch Kents, und diesen Leitspruch suche er eben nicht nur im akademischen Bereich tief zu verwurzeln, sondern auch in der praktischen Lebenskunst.
Dieser von der Vernunft so reich beschenkte Zeitgenosse hat die Jahre durchwandert wie eine tibetanische Gebetsmühle. Mit unerschütterlicher Gewissheit ist er der Philosophie als Leuchtfackel vorangeschritten und hat dabei nicht nur sich selbst, sondern auch dem Kingshill College jenen Weltrang eingeräumt, in dem es sich nun sonnt, als sei gleichsam dieses College allein der Ausgang aus Platons Höhle.
Umso erstaunlicher fiel mir dann - selbst weit davon entfernt, die Lehren Kents zu verstehen, nicht einmal sie zu lesen sehe ich mich imstande(!) - ein Schreiben des besagten Dr. Kent, Ordinarius des King Albert's Kingshill College, in die Hände. In ihm nichts geringeres als eine Bewerbung Kents.
Er, Dr. Kent - man würde ihn bei aller walten zu lassenden Bescheidenheit wohl ob seines vorauseilendes Rufes zumindest namentlich, wenngleich nicht inhaltlich, kennen - suche nach einer neuen Herausforderung. Die Umstände in seinem Heimatland würden ihm einen Verbleib angesichts der progressiven Entwicklung der Universitätslandschaft verunmöglichen, sohin er den Wechsel an unsere Bildungsstätte, die Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, erwäge. Im Anhang eine 6-seitige Bibliographie und ein Lebenslauf, indem nicht mehr aufschien als der Maturaabschluss, der Universitätsabschluss und die Berufung zum Professor, allesamt in Kingshill.
Meine erste Reaktion war naturgemäß die des Unglaubens. Kent hier an unserer Universität? Ich hielt das Schreiben zunächst für einen Scherz. Hoffnung aber machte sich dennoch in mir breit. Ein, wenn nicht sogar die Kapazität unserer Tage, gerade sie sollte es nach Wien verschlagen. Gelegentlich spielt das Schicksal Einem in die Karten: unmöglich, so sagte ich mir, sei es nicht, wenngleich unwahrscheinlich, dass er tatsächlich komme. Nichtsdestotrotz lag es nun selbstverständlich an mir, die nötigen Schritte einzuleiten, gerade an mir, einem unbedeutenden Assistenten in Wien, der Kent noch nicht einmal gelesen, geschweige denn verstanden, hat. Sofort griff ich zum Telefonhörer, wählte die Nummer meines Doktorvaters. Auch er gab sich zunächst reserviert. Ob ich mir sicher sei, fragte er, ob ich mir ganz sicher sei. Nun, sagte ich, auch ich könne nicht für die Echtheit der Schrift bürgen, allerdings mache sie einen seriösen Eindruck.
Am nächsten Morgen – die sofortige Erledigung der Angelegenheit würde die bürokratischen Wege hierzulande überstrapazieren – hatte man sich früh verabredet. Nicht nur ich und mein Doktorvater, sondern auch der Dekan persönlich samt einem Schriftbildspezialisten fanden sich in meinem Bürokämmerchen ein, um den Sachverhalt zunächst zu besprechen. Mein Doktorvater hielt dieses Vorgehen für das sicherste: ich solle, sagte er, die Bewerbung keinesfalls mit nachhause nehmen, andernfalls die Verlustgefahr eine zu hohe wäre. Besser wäre es, sie in meinem Schreibtisch zu versperren und morgen früh eine Besprechung folgen zu lassen. Zuerst trafen der Dekan und mein Doktorvater in meiner Kammer ein, beide leicht nervös und begierig, das besagte Dokument in Händen zu halten. Nach kurzer Lektüre befand der Dekan – im Gegensatz zu mir und vielen anderen Philosophen, soll er Kent nicht nur verstanden, sondern auch gelesen haben und deshalb die wahre Bedeutung Kents tatsächlich abschätzen können - , dass es das Beste wäre, zunächst auf den Schriftbildspezialisten zu warten; dieser habe bereits andere handschriftliche Texte Kents, die ohne Zweifel seiner Feder entsprungen waren, zum Abgleich vorbereitet. Es folgte eine bloß kurzer Unterredung zwischen dem Dekan und mir - angesichts der Bewerbung erschien sie uns wohl beiden als der reinste Austausch von Belanglosigkeiten. Danach traf der Experte auch schon ein. Er war ein wortkarger Mensch unscheinbarer Erscheinung, der wohl nicht ohne Grund das Lesen zu seiner Profession erhoben hatte. Wenige Minuten genügten, um die Echtheit der Schrift zu verifizieren. Erstaunt über sein rasches und definitives Urteil musste auch er sich die Frage meines Doktorvaters – ob er sich denn sicher sei – gefallen lassen. Er selbst, so der Schriftbildexperte, halte es ja mit den faktischen, empirischen Wissenschaft. Ihn interessiere nicht die Bedeutung, sondern die Erscheinung eines Textes. Deshalb könne er zu raschen, klaren Ergebnissen kommen, ganz ungleich uns Philosophen also, sagte er und verschwand ohne zu vergessen, seine Honorarnote am Tisch liegen zu lassen.
Der Dekan, der nicht nur Kenner, sondern auch Verfechter der Kent'schen Mortalphilosophie war, wirkte mit einem Mal verstört. Seine Stirn zeichneten tiefe Falten, seine Augen blickten fragend aus ihren Höhlen hervor. Selbst wenn, Selbst wenn, murmelte er mehrere Minuten lang vor sich hin, bis meinem Doktorvater die Geduld entschwand als wäre sich nichts als verbrauchte Luft, die aus den Lungen strömt. Selbst wenn was?, fragte er, sich leicht im Ton vergreifend. Nun, sagte der Dekan. Die Situation sei, wie so oft, eine verzwickte. Man könne einem Ansuchen Dr. Kents nur schwer ablehnen, handle es sich doch beinahe um ein brandoisches Angebot mit Kent als Paten. Aber selbst der Ruf Kents werde wohl nicht über Fakten disponieren können, die gegeben sind. Die finanzielle Situation sei eben denkbar schlecht. Und auch wenn Kents Mortalphilosophie auf Engste mit seiner Moralphilosophie verknüpft sei werde ein Lehrstuhl am Institut für Moralphilosophie erst in 3 Jahren frei; von einem Lehrstuhl für Mortalphilosophie, wie er in Kingshill für Kent eingeführt würde, könne man ja hier ohnehin nur träumen. Kurzum: nichts wäre für die Universität reizvoller, als einen Kent sein eigen nennen zu können, aber so reizvoll dies auch ist, ist es ebenso unfinanzierbar. Man werde das Angebot ablehnen müssen.
Enttäuscht, nicht aber unbedingt überrascht über diese Wendung – freilich wäre eine Berufung Kents hierzulande zu viel des Guten gewesen – fragte ich, ob ich ein Antowrt schreiben aufsetzen solle. Der Dekan und ebenso der Doktorvater aber reagierten gleichermaßen entsetzt. Ob ich noch bei Trost sei, fragte man mich, ob ich mir über den Einfluss Kents im gesamten philosophischen Bereich im Klaren sei? Ihn abzulehnen, ihn offiziell abzulehnen, das sei nichts geringeres als philosophischer Selbstmord! Kent habe schon viel Mitstreiter ruiniert und er werde, so sagten sie, auch uns, auch mich, das ganze Institut ruinieren, wenn man ihn offiziell ablehne! Es müsse ein anderes Vorgehen gewählt werden.
Die Zustände an den Universitäten, soll Kent zu der Zeit seiner Bewerbung immer wieder beklagt haben, seien allerorts die schlimmsten. Man lebe in einer Zeit, in der das höchste Gut selbst – der menschliche Geist – nichts mehr wert sei. Die Formung des Geistes, die Grundlegung menschlichen Verhaltens und die vernünftige Ausarbeitung von Prinzipien desselben habe man eingetauscht gegen ein schnelllebiges System, das nicht auf Wert, sondern auf Verwertung basiere. Er habe sich, soll er seinen Kollegen in Kingshill erzählt haben, nicht zu einem solchen Schritt entschlossen. Ein Entschluss, soll er gesagt haben, setze Alternativen voraus. Diese aber seien ihm nicht mehr gegeben, nicht mehr auf diese Art. Diese Umwälzung universitärer Strukturen hin zu pseudo-akademischen Graden sei geradezu ein Angriff auf die Professorenzunft und müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Schließlich sei er, Kent, aus Kingshill nie herausgekommen und könne ihn, Kent, aus Kingshill auch nichts anderes herausbewegen als der pure Zwang von innen. So wolle er nun nach Wien, in das altehrwürdige Wien, weil dort der Fortschritt schon immer mit Argwohn beäugelt wurde und dieser Argwohn gerade im universitären Bereich nichts anderes als moralisch geboten sei. Das studentische Niveau sei ohnehin ein ständiger Verfall, aber nun anstatt Magister- und Doktorarbeiten jemandem einen Bachelor zu verleihen, das sei die Spitze eines Eisbergs, der er, Kent, nicht mehr erklimmen werde.
Umso überraschender muss für Kent angesichts dieser Anekdoten gewesen sein, dass er gerade nicht nach Wien, sondern in eine kleine Seestadt im österreichischen Innergebirg eingeladen wurde, um dort über seine Stelle zu verhandeln. Der Dekan und, nach einigem Zögern auch mein Doktorvater, kamen nämlich zu dem Schluss, den alten Kent von sich aus zu einem Rückzug zu bewegen. Es sei, so der Dekan, allseits bekannt, dass Dr. Kent kein Freund der Aufruhr war. Dass er aus Königsberg noch nie herausgekommen war, habe guten Gründe: Kent verabscheue Veränderung. Ein Treffen im Innergebirge um die Winterszeit, das würde Dr. Kent, wie der Dekan sagte, das Kraut ausschütten. Nur selten gleitet der Dekan in solche Sprechweisen ab, nur selten, dann aber umso eindringlicher, legt er damit seine bäuerliche Natur offen. Man wolle dem Kent beim Schifahren zur Vernunft bringen, wolle ihm ein Österreich zeigen, das er wieder verlassen muss.
So erreichte Dr. Kent nur wenige Tage nach seinem Ansuchen ein von mir verfasstes Schreiben, in welchem man sich nicht nur erfreut zeige, sein Interesse geweckt zu haben, sondern ihn vielmehr zur alljährlichen Professuralkonferenz im Pinzgauer Innergebirge einlade, um ihm dort die außeruniversitären Gepflogenheiten der österreichischen Professoren näher zu bringen. Selbstverständlich gab es weder eine Professuralkonferenz noch sonstige außeruniversitäre Aktivitäten seitens der hiesigen Professoren, allerdings erhoffte man sich mit diesem Schritt, Kent davon zu überzeugen, hier nicht nur einen einmaligen, sondern einen regelmäßige wiederkehrenden Gebirgsalptraum miterleben zu müssen. Das Pinzgauer Innergebirg erschien hier nicht nur angesichts seiner Dunkelheit, sondern auch der unberechenbaren Schneemenge und nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich dort ein akademischer Hotelier befindet, dessen Bekanntschaft man gemacht hat, als der geeignetste Ort für ein solches Treffen. Darüber hinaus war man sicher, im Pinzgauer Innergebirg mit dem hohen Gast kein allzu großes Aufsehen zu erregen, galt doch das Interesse der Bergischen immer schon mehr dem Wetter als den großen Geistern.
So kam es, dass sich Dr. Kent und die „Professuralkonferenz“ inmitten eines eisigen Februars am Fuße eines so genannten Grasberges wiederfanden, um über Dienstverträge und dergleichen mehr zu verhandeln. Die Professuralkonferenz bestand letzten Endes aus dem Dekan, der in seiner tatsächlichen Funktion auftrat, meinem Doktorvater als Vertreter der sonstigen Professoren, mir als Vertreter der zukünfigen Generation und schließlich noch dem Wirten selbst, der sich als Kommerzialrat der Universität und Verwalter der Universitätsgründe im Gebirge ausgab. Genauso, wie es eine Professuralkonferenz nicht gab, gab es freilich auch keinen universitären Kommerzialrat oder sonstige Grundstücke im Besitz der Universität – nicht einmal Interessensvertretungen kannte und kennt die Universität Wien bis heute, aber all das, nun: wie sollte es Dr. Kent erkennen – hier waren eben nicht mehr seine Gewohnheiten zuhause, hier fungierte ein anderer Usus als Magister Optimus, wie Kent bei seinem Eintreffen gleich feststellte.
Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, begab man sich zu Bett. Mit geradezu heimtückischer Absicht hatte der Dekan dem Kent ausdrücklich nur ein Bettlaken zukommen lassen, was der Wirt nur schweren Herzens billigte, wollte er doch seinen guten Ruf bei den Gästen nicht verlieren. Nachdem man ihn aber mit philosophischer Argumentation davon überzeugen konnte, dass Dr. Kent ohnehin kein zukünftiger Kunde sei, weil sein Herauskommen aus Kingshill als absoluter Ausnahmefall gelten müsse, zeigte sich dieser einverstanden und verweigerte Kent vehement, weitere Bettlaken auszuhändigen. Man müsse sich, so der Wirt, im Gebirge und in Österreich überhaupt mit dem Begnügen, was vorhanden sei, und selbst wenn die Höflichkeit und damit ein Ausfluss der Moral selbst gebiete, Kent weitere Decken zukommen zu lassen, so könne dies schon aus empirischen Gründen nicht geschehen, weil es schlichtweg an solchen Decken mangle. Es sei sogar die höchste Form der Unmoral, ihn – Kent – hier gegenüber anderen Gästen zu bevorzugen, müsse doch die Gleichheit aller Menschen als allgemeines Gesetz anerkannt bleiben. Sichtlich zufrieden mit dieser Argumentation, weniger aber mit dem Deckenmangel, fand sich Kent mit seiner Situation ab.
Am nächsten Morgen oblag es mir, Kent in den Tag zu holen. Ein großes Prozedere war hierfür nicht nötig, hatte Kent doch, wie er sagte, ohnedies kein Auge zugemacht. Umso erfrischender würde da die Bergluft wirken, sagte ich und deutete auf ein Paar Schi, die, wie er sogleich verstand, für ihn gedacht waren. Sofort machte sich in den Zügen Kents Unruhe breit. Nicht nur fehle ihm im Schifahren jede Routine, jede Übung, auch halte er das Schifahren an sich für eine höchst unvernünftige Tätigkeit. Der schifahrende Mensch, sagte Kent, sei nichts weniger als entartet, verliere daher jede Vernunft und damit auch jede Würde. Vorbereitet auf solche Einwände entgegnete ich Kent, dass es sich beim Schifahren hierzulande um eine Dienstpflicht handle, weshalb er sich darin werde üben müssen.
Mit jedem Meter, den wir den Berg höher hinaufstiegen, steigerte sich auch das Kentsche Unbehagen. So nahe am Himmel sei der Mensch nicht mehr an seinem Platz sagte er, wenngleich die Aussicht die erhellendste sei. Am Gipfel angelangt nötigte man ihn, einen Gipfelstürmer – ein abscheulicher Schnaps, den der Wirt normalerweise seinen „Stammgästen“ vorbehalt, weil ihn freiwillig ohnehin niemand kauft – zu trinken. Er war tatsächlich bemitleidenswert inmitten dieser intrigären Runde, und doch war sich diese sicher, nicht nur das Richtige, sondern gar das Gebotene zu tun. Eigenartigerweise aber schien der Schnaps eine geradezu wohltuende Wirkung auf Kent, der, wie er sagte, gewöhnlich überhaupt nicht trinke, zu haben. Sein gebetsmühlenartiges Dasein verbiete ihm, dem Alkohol zu fröhnen, aber ebenso, wie er zum ersten Mal aus Kingshill herausgekommen sei, war es wohl auch an der Zeit, aus seinem sonstigen Trott zu auszubrechen. Und so zeichnete sich auf Kents Gesicht, der zeitlebens der größte Verfechter der Vernunft gewesen ist, ein spitzbübisches Lächeln ab, wie es nur Menschen haben, die mit dem größten Tatvorsatz Unvernünftiges tun. Mit jenem spitzbübischen Lächeln hatte sich Kent anschließend die Schier angeschnallt, und nach ein, zwei Probeschwüngen das Wesen des Schilaufens durchschaut. So fuhr er, freilich unbeholfen, aber doch nicht ohne Grazie, den Bergbuckel mit uns hinunter, etwas langsam zwar und mit der Vorsicht eines Denkers, aber alles andere als ungeschickt.
Am Abend aber, die „Professuralkonferenz“ hatte zuvor noch im Geheimen getagt und sich angesichts des vergnügt wirkenden Kents besorgt gezeigt, verlangte Kent zum Essen Bier und Schnaps, ließ sich anschließend sogar noch auf ein Kartenspiel samt Gipfelstürmern mit den Stammgästen ein. Am nächsten Morgen schlief der Kent bis in die Mittagsstunden, sodann machte er sich auf eigenen Faust auf den Weg ins Gebirge. Als wir Kent Stunden später nirgends auffinden konnten, durchsuchten wir sein Zimmer. Es war leergeräumt, nur ein Zettel lag auf dem Bett. Er, Kent, habe kein Interesse mehr an einer Professur, auch nicht an der Philosophie selbst. Er wolle sich nun niederlassen, irgendwo hier im Gebirge, und seinen Lebensabend genießen, fernab von den großen Problemen des Geistes, die immer verschwinden, wenn er den Gipfel stürmt oder Gipfelstürmer trinkt. Er sei nun vielmehr auf dem Gipfel der menschlichen Erkenntnis angelangt und wünsche, nicht mehr gestört zu werden.
Verwundert, aber doch auch zufrieden, reiste die Professuralkonferenz zurück nach Wien. Von Kent aber fehlt bis heute jede Spur. Im Gebirge will man ihn nicht gesehen haben, von den Universitäten hält er sich fern. Was übrig bleibt sind Anekdoten und Geschichten, Gerüchte und Legenden und ein Werk, dessen Gipfel bis heute nicht bestiegen wurde.
ledsgo - 23. Jan, 18:39
Lol :P