Kritk ohne Verzicht: Dialektik der Unaufgeklärten.

Als jenes Zentrum des Universums, für das man sich ganz naturgemäß hält, wenn man Bürger einer zentraleuropäischen Sozialdemokratie ist, denke ich mir, dass es kein Zufall sein kann, dass die internationale Protestbewegung gegen Finanzwirtschaft, Kapitalismus und allem, was sonst noch dazu gehört – das sog. „United for global change movement“ – auf den Tag nach meinem Geburtstag fällt: zwei weltpolitische Großereignisse berühren einander ja nicht selten und es ist dabei nur folgerichtig, dass globale Konsumkritik jeweils erst nach meinem Geburtstag einsetzt, denn – so ehrlich muss man sein – wer will denn schon einen konsumkritischen Geburtstag feiern? Zum Abendessen indische Linsensuppe, dazu ein Glas Leitungswasser und als Geschenk ein paar selbstgeschnitzte Holzpantoffeln und einen Jutesack, indem man das nicht vorhandene, weil gar nie gekaufte Zeug, stopfen könnte, wenn man welches hätte und in den man sich, damit er nicht völlig nutzlos ist, letzten Endes selber stopft, weil man nichts verschwenden möchte?


Das ist natürlich völliger Unsinn und keinem Geburtstagsfest zuträglich. Stattdessen lieber ein hemmungsloses Besäufnis, eine regelrechte Biervernichtungsanlage ist meine studentische Bude gewesen, Autobahnen haben sich in die Lungen der Anwesenden hinuntergeteert - ob diese nun Raucher waren oder nicht war bei der Dicke der Luft auch schon egal, letztlich hat man neben Suchtgiften wie Alkohol, Nikotin, fettem und zuckerhaltigem Essen auch noch kostbare Lebenszeit verschwendet: weder auf den Alterungsprozess, noch die Produktivität der nächsten Tage dürfte sich beschriebenes Gelage positiv ausgewirkt haben.


Am 15. Oktober aber schließlich die große Ernüchterung und der Schwur gegen sich selbst – was für ein Tier, der Mensch, dass er sich selbst schwören kann und dann auch noch die Frechheit besitzt, selbst diesen heiligsten Schwur zu brechen (ein Wunder, dass er es überhaupt kann, dieser Mensch!) - : Zeit zum Verzichten. Man habe in den letzten Tagen genug gesoffen, hört man es im Kopf, genug geraucht, sagt einem das eigene Hirn, genug Mist in sich hineingeschaufelt, grunzt der Bauch, der, etwas wanstiger als sonst, dennoch nichts von seiner Gemütlichkeit verloren hat und sich das Prädikat Wohlstandsbäuchlein redlich verdient hat. Alles in allem hat man genug, es reicht, was ja auch nur folgerichtig ist, schließlich hat man sich ja fleißig angereichert.
Plötzlich meldet sich also die Vernunft zurück, kurzzeitig hat man sie vergessen und ganz mutwillig ausgeschalten, aber jetzt hört man ihre Gebote wieder. Tausend Dinge sollte man machen, dabei klebt man im Bett wie ein alter Kaugummi – Geworfenheit kommt einem in den Sinn, ob er das gemeint hat, der Heidegger? Warum hat er nicht Geklebtheit geschrieben? Oder Ausgespucktheit? Nun, wie so vieles wird auch das unergründlich bleiben.


Vernünftig jedenfalls steht man auf und geht spazieren, weil man einen klaren Kopf bekommen will und den Dunst in der Wohnung nicht mehr aushält. Eigentlich, sieht man schließlich ein, will man nichts weniger als einen klaren Kopf und es ist de facto der Dunst, der einen ins Freie treibt. Trotzdem lichtet sich der geistige Nebel unaufhaltsam und in jedem Fall spaziert man, ganz ungeklebt aber nicht gleich ungeworfen, und findet sich am Heldenplatz, wo schon wieder Unvernunft herrscht.


Tatsächlich ist auch das kein Zufall: wenn zwei weltpolitische Großereignisse aufeinander treffen, ist natürlich meist nur eines im Zeichen der Vernunft aufgetreten. Ein Beispiel: Er herrscht dreißig Jahre Religionskrieg in Europa (Unvernunft), bis 1648 endlich jemand – Ferdinand III. – Religionsduldung herstellte (Vernunft). Oder: Bis George W. Bush durch Barack Obama abgelöst wurde, herrschte in den USA die Unvernunft. Wenn Obama schließlich abdankt, wird wieder die Unvernunft geherrscht haben und eine neue Vernunft herrschen, bis sie unvernünftig geworden ist.


Jedenfalls treffe auch ich als Inbegriff des Vernünftigen auf die versammelte Unvernunft, die ‚protestierend‘ am Heldenplatz herumlungert. Zunächst sehe ich einen Redekreis, indem ein jeder dem anderen für seine Anwesenheit dankt, auf die ‚positive Stimmung‘, den ‚epochemachenden Vibe‘ oder den ‚weltgeistlichen Willen selbst‘ aufmerksam macht und dabei in einer andächtigen Haltung in den blauen Himmel starrt. Revolutionär ist das nicht, denke ich, eher noch religiös.


Schließlich treffen auch die Kampfwagen vom Westbahnhof ein: riesige Boxentürme blasen Drum’n’Base durch den ehrwürdigen Platz: wäre der Erzherzog Karl, dem mittlerweile eine Fahne der Piratenpartei in die Hand gesteckt wurde, nicht in Blei gegossen, würde er davon reiten. Bierdosen kugeln ebenso herum wie die Trinkenden, die mehr nach Freizeitdemonstranten aussehen als nach politisch Oppositionellen, die ernsthafte Angelegenheiten verfolgen. Nun, warum nicht den globalen Kampf feiern, wenn man ihn schon verlieren wird, denke ich mir und schlendere heimwärts. Ich weiß nicht, was deprimierender ist: der Umstand, dass eine kritische Protestbewegung selbst die Form jener Eventkultur hat, die dadurch angeprangert wird, oder aber dass diese Protestbewegung ohnehin versanden wird.


In Internetforen liest man davon, dass alle mündigen und kritischen Bürger Teil dieser Bewegung sein sollten, ja gar müssten, wenn sie eine lebenswerte Zukunft für die kommenden Generationen schaffen wollten. Aber was heißt hier mündig, was kritisch? Mündig erscheint jedenfalls kein betrunkener, tanzender Antifa-Kommunist, auch wenn er noch so viel Marx gelesen hat (was ja nicht der Fall sein wird). Und das Kritische ist selbst nicht mehr als eine leere Phrase, ein Hohlraum vergangener Homogenität. Natürlich wusste man vor 60 Jahren, was der Kritik würdig war, welche Blickwinkel der richtige war. Aber im modernen Pluralismus ist eigentlich nichts – im negativen Sinne – ‚kritischer‘, und das meint ungangssprachlich 'gefährlicher', als ein klar definierter Standpunkt, weil dieser nur dogmatisch sein kann. Die Philosophen nennen das ‚Die Grundlosigkeit der Moderne‘ was zwar pathetisch klingt, aber zumindest diagnostisch nicht ganz unrichtig zu sein scheint. Aber wen interessieren schon Philosophen, wenn man auf dem Heldenplatz feiern kann? Wen interessiert denn schon globale Gerechtigkeit, wenn er ein paar Bier intus hat, ist ohnehin alles harmonisch. Am nächsten Tag werden sie von der Magie des Tages sprechen, aber sie werden nicht mehr wissen, ob wirklich der Moment ein magischer war, oder ob der Alkohol zu verzaubern mag, was ansonsten gleichgültig erscheint.


Kapitalismuskritik jedenfalls, die nicht verzichtet, ist de facto Unsinn. Es geht dabei nämlich nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Befriedigung des eigenen Wollens. Kapitalismuskritik ist hier keine Kritik an Überfluss, Überproduktion und Ausbeutung, sondern ein Ausdruck derer, die meinen, zu wenig von diesem Überfluss zu haben, ist damit, de facto, die Gier derer, die sich als Verlierer der Gesellschaft betrachten. Das ist freilich legitim, allerdings ist es nicht weniger heuchlerisch als jenes Establishment, auf das sich das Gegröle der Demonstranten bezieht.
Aber ebenso wie ich wird auch diese Bewegung ein Jahr älter werden, und wer weiß, vielleicht wird sie auch reifen. Aristoteles meinte einmal, es sei einem breiten Mittelstand vorbehalten, sittliche Reife und politische Tugend auszubilden. Menschen, die zu reich sind, würden böse im Großen, arrogant und herrschsüchtig. Existenziell bedrohte Menschen, die mit der Armut kämpfen, würden hingegen hinterlistig und gemein im Kleinen, egoistisch und ohne jeden Großmut. Nun, ich glaube, Aristoteles hatte unrecht: sittliche Reife und politische Tugend habe ich nämlich nirgends gesehen. Nur einen, im wahrsten Sinne des Wortes, „breiten“ Mittelstand.

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