Hundstage: Eine kleine Kunst des Lebens.

Ein großer Nachteil des städtischen Lebens ist die Menge an Menschen. Der Städter schätzt zwar das Untergehen in der Menge – die Nichtigkeit des Einzelnen, die erst Anonymität erlaubt –, nicht aber und niemals schätzt der Städter die Menge selbst. Paradoxerweise sind solche Menschenmengen damit Fluchtpunkt und Ort der Vermeidung zugleich: einerseits möchte der Einzelne in dieser Menge untergehen, sie wird ihm so zum Fluchtpunkt vor seiner Persönlichkeit, die er hier ungeniert nach außen richten kann, weil sie niemanden kümmert; andererseits aber will niemand wirklich in der Menge untergehen: das ständige Berühren und Berührt-werden, der Körpergeruch der Anderen, die reduzierte Schrittweite, blaue Zehen und dergleichen mehr kann natürlich niemand vernünftigerweise wollen.
Besonders tragisch erleben sich solche Menschenmengen an so genannten Hundstagen, Tagen also, die man gar nicht leben will. Zur Vermeidung von Hundstagen haben sich die Menschen verschiedenste Taktiken zurechtgelegt: manche versuchen, den ganzen Hundstag überhaupt zu verschlafen, andere beginnen früh zu trinken, um dann – frei nach dem Motto „Früh fett – früh im Bett“ – am nächsten Tag ihr Glück zu versuchen, Hundstage sind nämlich tatsächlich temporär begrenzt und von einer tatsächlichen Untragbarkeit des Lebens dadurch unterschieden, dass sie völlig grundlos auf- und abtauchen. Sie bestehen dabei hartnäckig auf ihr Recht, Teil des Lebens zu sein, sind sie zu diesem Recht aber gekommen, verschwinden sie auch wieder. Deshalb ist, wie mir scheint, die erste Variante der Hundstagsvermeidung völliger Unsinn: es wird nämlich, verschläft man den ganzen Hundstag mit voller Absicht, eine Hundsnacht entstehen, oder aber, sollte es tatsächlich gelingen Hundstag und –nacht zu verschlafen, so wird sich das Hundstagige am nächsten Morgen zurückmelden und man wird den verschlafenen Missmut des gestrigen Tages heute umso munterer mit sich herumschleppen. Dazu kommen noch Schuldgefühle, weil der Vortag ohne Tätigkeit verstrichen ist. Jedenfalls lässt sich ein Hundstag nicht einfach verschlafen, unter Umständen lässt er sich aber ein wenig verkürzen. Freilich, ein Ding der Unmöglichkeit ist es, den ganzen Hundstag durch frühes Trinken abzuwehren, weil ansonsten das bereits bekannte Phänomen der Hundstagsverschiebung eintritt. Überhaupt sind Katertage nicht selten Hundstage, und wenn der Hundstag nur dadurch vermieden wird, dass man ihn übertrinkt, kann mit einer beinahe an absolute Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Kater- und Hundstag tags darauf auf- und ineinandergreifen, was nur selten angenehm ist. Deshalb sollte auch die durch Alkohol unterstützte Variante mit zunehmender Vorsicht genossen werden, wie der Alkohol ja mit steigendem Lebensalter – und also steigender Hundstagsanfälligkeit – generell immer mehr mit Vorsicht zu genießen ist. Es kann deshalb löblich sein, sich am späten Nachmittag oder frühen Abend mit einem, oder vielleicht zwei Freunden zu treffen, um gemütlich ein Bier oder ein Gläschen Wein zu trinken, zu vermeiden aber sind jedenfalls Spirituosen aller Art sowie das allzeit lauernde Übermaß.
Nun ist an Hundstagen durchaus auch die Zeit bis zum Spätnachmittag zu überbrücken. Hierfür bietet sich in erster Linie die Ablenkung. Wer sich tagsüber nur mit den Unzulänglichkeiten des Lebens beschäftigt, wird den Hundstag naturgemäß und unnützerweise in die Länge ziehen. Er wird schon beim Zähneputzen die Vergeblichkeit dieses Putzes bejammern, beim Toilettengang den Zwangscharakter der natürlichen Bedingtheit des Menschen bedauern, beim Kochen die Entfremdung des Menschen, der aus Plastik- und Styroporgefäßen Fleischstücke nach Maß ins Teflonpfännchen wirft, bekriteln und schließlich beim einsamen Hineinstopfen des schlecht gekochten und noch schlechter schmeckenden Stücks Tierfleisch die miserable Gesellschaft seines Fernsehers, der ihm nur Dummheiten und allerlei Langweiliges, Schon-da-Gewesenes und Nicht-mehr-weg-zu-Bekommendes vorspielt, beklagen.
Nach diesem Tagesauftakt wird freilich notwendig sein, sich zu zerstreuen, was sich angesichts hartnäckiger Negativität des eigenen Denkens nicht immer einfach gestaltet. Der primär an Hundstagigkeit leidende – der librophile Mensch – wird vom Fernseher zum Buch übergehen müssen, jene, die trotz Hundstagigkeit generell nicht zu Büchern greifen, verfallen gewöhnlich einer stumpfen Dauersendersuche oder bleiben bei einem U-15 Fußballmatch auf Eurosport 3 zwischen Japan und der Mongolei hängen, weil der Kommentator schönes Englisch spricht. Andere Ablenkungstechniken sind in dieser frühen Phase der Hundstagigkeit weitgehend unbekannt, da die weiteren Alternativen – Spaziergang im Freien, Kaffeetrinken im Lieblingskaffee oder Zeitunglesen – einen Gang ins Freie erzwingen, der nur in höchster Not gewagt wird und auf eine tatsächliche Untragbarkeit der konsultierten Bücher und Fernsehsender rückschließen lässt.
Weil aber der sprichwörtliche innere Schweinehund mit der Hundstagigkeit in engster Verbindung steht, muss zur Überwindung zweiterer zunächst einmal ersterer überwunden werden, was dazu führt das unser an Einsamkeit, transzendentaler Obdachlosigkeit und chemischer Disharmonie im Zentralnervensystem leidender Freund für gewöhnlich erst am Nachmittag den Gang ins Freie wählt. Diesem Trivium moderner Traurigkeit auf sozialer Ebene zu begegnen ist für gewöhnlich der erste Schritt: man kocht und gesellt sich zu seinem Freund, dem Fernseher, oder zum noch besseren Freund – dem Laptop (und/oder IPhone, Ipad etc.). Der zweite Schritt ist schließlich der Versuch, dem Trivium auf spritueller Ebene zu begegnen: der Griff zum Buch oder zum U15-Fußballmatch. Da aber an Hundstagen solche Sinnstiftung nicht funktionieren will, muss auf biologischer Ebene gearbeitet werden, weshalb eben der Spaziergang, der Endorphine oder Ähnliches freisetzen will (das sprichwörtliche Hirnlüften scheint mir eine Antizipation dieses Wunsches zu sein), schließlich und endlich doch gewagt wird.
Hier kommt unser traurige Held endlich mit der Masse in Berührung, die er, wie eingangs festgestellt, paradoxerweise will und nicht will zugleich. Er will in ihr Untergehen, fürchtet aber, an ihr zugrunde zu gehen. Plastisch gesprochen ist ja das Untergehen und das Zugrundegehen ein- und derselbe Vorgang, weshalb mit einigem Recht geschlossen werden darf, dass unser Held ein simples Problem des Wollens hat: er will und will zugleich auch nicht. Der philosophische geschulte Leser wird vermutlich einwenden wollen, dass die binäre Logik im echten Leben nur wenig Bedeutung habe. Dennoch scheint das Problem der Hundstagigkeit ein simples Problem binärer Logik zu sein: unser Held will freilich leben, lebt mitunter sogar sehr gern, aber diesen bestimmten Tag will er einfach nicht erleben. Deshalb fühlt sich unser Held einerseits nackt und exponiert, wenn er auf sich alleine gestellt ist, andererseits aber bedrängt und übervorteilt, wenn er tatsächlich ins Leben eintaucht und Teil der Masse wird. Die Hundstagigkeit funktioniert nach einem ähnlichen Strickmuster: wer sich gegen das bereits genannte Trivium zur Wehr setzt wird ebenso scheitern wie der, der resignativ den Hundstag erträgt. Einmal der Diyonisiker, der den Weg des Machens und Tuns einschlägt, einmal der Stoiker, der den Weg des gelassenen Ertragens anstrebt. Man lernt hieraus, dass das Problem der Hundstagigkeit ein unlösbares ist. Es kommt und geht, entsteht und vergeht wie von selbst und wenn schließlich der frühe Abend erreicht ist und sich unser tragische Held endlich mit Gleichgesinnten zu einem Bier trifft – man sollte dringend darauf achten, sich an Hundstagen nur mit Leuten zu treffen, denen es ähnlich ergeht wie Einem selbst – wird der tragische Held schon rasch zum Schwarzhumoriker und Komiker, der bemerkt, dass es Schlimmeres gibt, als einen Hundstag zu haben. Und schon hat er sein Trivium mitsamt seinem inneren Schweinehund und der gesamten Hundstagigkeit überhaupt in die Dunkelheit seines Unbewussten gebannt: die Einsamkeit hat er gegen die Geselligkeit eingetauscht, den Missmut gegen schwarzen Humor, wodurch ihm auch zu dämmern beginnt, das am Ende des Tunnels vielleicht kein Licht mehr leuchtet, wie das noch in früheren Zeiten der Fall zu sein pflegte, dass aber doch, mit ein bisschen Glück und gutem Willen zumindest der Tunnel selbst beleuchtet ist, weshalb auch die transzendente Obdachlosigkeit überdacht werden kann, auch wenn dieses Dach keine ewige Zuflucht im Palast Gottes, sondern nur noch im Zelt weltlicher Freude gewährt (der Mensch ist in dieser Hinsicht ja nicht kleinlich: temporär reicht ihm jeder Sinn, und für gewöhnlich muss er ja auch gar keinen haben, er braucht ihn ja nur in der Hundstagigkeit). Letztendlich ist auch das biochemische Gleichgewicht wieder hergestellt, weil ja auch das Bier die wunderbare Fähigkeit besitzt, Endorphine auszuschütten. Nun sollte unser tragik-komische Held seine Karten gut spielen und weder zu tief ins Glas, noch zu tief in die Nacht hineinschauen. Aber das bleibt wie die Frage nach der Strategie zur Hundstagsbekämpfung, ganz dem Helden selbst überlassen und nicht selten sind ja auch schon die denkwürdigsten Nächte aus Hundstagen entwachsen, Nächte nämlich, die einen Kater- und Hundstag allemal Wert waren…

Musik

Aktuelle Beiträge

Gefällt mir auch rein...
Gefällt mir auch rein äußerlich gut, simple Paarreime,...
Staubkorn - 19. Apr, 18:37
...
Keiner, der dich noch erwartet niemand hat dich hier...
ledsgo - 18. Apr, 18:00
Sehr schön Lederer!;)
Staubkorn - 11. Feb, 10:29
Zeitlebens
Tage prallen aneinander wie Regentropfen sanft und...
ledsgo - 8. Feb, 12:24
Mortalphilosophie *g*
Mortalphilosophie *g*
Staubkorn - 29. Jan, 15:35

Musik


Alltägliches
Gelesenes
Wahrheiten und (Un)Brauchbares
Zitate
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren