Das Schöne der Kontingenz

Ich erinnere mich noch an einen Moment in meinem Leben, der mich seinerzeit verstörte. Eine gute Freundin gab mir eine gebrannte CD, sozusagen die moderne Version von Mixtapes in einer vormodernen Zeit ohne Apple, IPod und Youtube. ich war damals wohl 16 oder 17 Jahre alt und der Meinung, schon längst mit allen Wassern gewaschen zu sein. Schließlich konnte ich mich aufraffen, diese CD anzuhören. Am Ende derselben war ich verstört: dass eine solche Musik überhaupt existierte, ja dass es überhaupt möglich war, solche Musik zu schreiben, hatte ich bis dahin nicht gewusst. Diese CD hat mir, philosophisch gesprochen, eine ganze, bis dahin unbekannte, Welt eröffnet. Diese so radikal neue, andere Musik - die freilich so anders dann auch wieder nicht war - hatte mich begeistert und neugierig gemacht: vielleicht, so dachte ich, gibt es in dieser neuen Welt noch andere, unbekannte Großartigkeiten, die ich gar nicht kenne, und tatsächlich: es gab und gibt sie.

Heute stehe ich am Schlickplatz, vor mir raucht ein Türke aus dem Fenster hinaus. Ein kleiner Junge, wie ich wartet er auf die Straßenbahn, wirft seine Handschuhe demonstrativ auf den Boden: er protestiert. Seine Mutter schimpft, muss aber, da der Junge ein gewisses schauspielerisches Talent an den Tag legt, selber lachen und klaubt letztendlich die Handschuhe des Jungen auf.
In meinem Schuffle beginnen plötzlich die ersten paar Akkorde jenes Liedes, das mich damals - ich erinnere mich noch sehr genau an diese CD - so sehr faszinierte. Eine verrauchte Stimme beginnt zu singen: "Ich bin jetzt immer da wo du nicht bist, und das ist immer Delmenhorst..."
Ich denke zurück an die Zeit, in der mir diese ganze Welt noch neu war, in die ich nun hineingewachsen bin - mehr vielleicht, als es mir lieb ist. Diese ganze Welt der Kultur hing bei mir an jenem Schlüsselerlebnis, das mir zeigte, dass Musik nicht bloß Unterhaltung, Sprache nicht bloß Unterredung ist und sein kann, sondern dass es Kunst tatsächlich gibt. Ich habe mit diesen Liedern das erste Mal verstanden, dass Kunst nicht bloß etwas ist, das irgendwelche Menschen als "Kunst" deklarieren, sondern dass es gelegentlich, vielleicht auch nur selten, wirklich einen qualitativen Unterschied gibt zwischen Musik und Musik, zwischen Sprache und Sprache. Diesen qualitativen Unterschied zu fassen, versuchen die, die sich in diese Welt eingenistet haben, schon lange. Der große Kant hat uns eine ganze Kritik über ihn geschrieben, aber fassen können wir ihn immer noch nicht.
Das ist aber auch gar nicht nötig. In dem Moment nämlich, in dem ich dieses Lied höre, entsinne ich mich wieder meinem Schlüsselerlebnis und bemerke die Welt in der Welt, die ich vorhin gar nicht kannte: wie alles im Leben wird einem auch die Existenz von Großartigem zur Selbstverständlichkeit, wenn es zur Gewohnheit wird.
Letzten Endes ist nämlich gerade diese Welt der Kultur und des Geistes ein großes Rätsel. In der fortschreitenden Suche nach Wissen und Erkenntnis entdecken wir immer mehr die Kontingenz unseres Daseins und der Welt überhaupt. Dass alles, was ist, genau so gut nicht sein könnte, empfinden wir für gewöhnlich als empörend. Diese Kontingenz, die Erfahrung, als sinnloses Zufallsprodukt der Evolution auf einer Kugel ewiggleiche Kreise durch das Nichts zu ziehen, erschüttert geradezu unseren Stolz, halten wir uns doch insgeheim für das Zentrum des Universums - sogar den Schöpfer, der das alles erschaffen (oder erschöpft?) haben soll, haben wir uns ins Herz gedichtet, ein Teil von unserer Seele soll er sein.
Aber dieses Eindreschen auf die Kontingenz übersieht das Schöne der Kontingenz, den Umstand nämlich, dass es solche Welten in der Welt überhaupt gibt, dass jemand in der Lage ist, Lieder zu schreiben beispielsweise, die uns noch nach Jahren beglücken. Warum das so ist werden wir wohl nicht herausfinden - wir werden es uns auch nicht, wie Büchner einmal schreibt, aus dem Leib herausbrechen - aber dass es so ist, obwohl es genau so gut nicht sein könnte, ist letztlich ein Wunder, unbegreiflich zwar, aber gerade deswegen nicht minder, sondern umso mehr, erfreulich.
Staubkorn - 9. Dez, 15:14

Endlich einmal jemand, der zu dem Schluss kommt, dass selbst die Kontingenz einen reizvollen, schönen Aspekt besitzt, den man zu schätzen wissen sollte.
Bei aller Liebe zur negativen Konnotation von Kontingenz - dass muss einmal gesagt sein!

Grüße plonk

ledsgo - 9. Dez, 16:41

Des wosch du jetzt gsogg hosch loss i nid letz sei!

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