Der Holger wird zum Ungustl

Was die soziale Komponente betrifft, scheint die philosophische Fakultät samt ihren Studenten eine Art Dreieck darzustellen, an deren Spitze dort und da Menschen zu finden sind, die durchaus wissen, wie sie sich zu verhalten haben, das allerdings nach unten hin offen ist. Die Bodenlosigkeit, mit der die Verhaltensfrechheit des Einzelnen hier jeden Tag aufs Neue Fässern Böden ausschlägt, die eigentlich schon längst nicht mehr vorhanden sein sollten, ist einzigartig und unbestritten.
Wenn nämlich wie unlängst wieder einmal festgestellt wird, dass es furchtbar schwer ist, auf der philosophischen Fakultät nette Leute kennenzulernen, wird nur noch gleichgültig mit den Schultern gezuckt: ja, jeder weiß das. Und Nein, keinen verwundert das. Mich selbst allerdings hat dieser Umstand tatsächlich einige Zeit lang verwundert.
Es ist ja schließlich so: die Philosophen oder besser die, die's gerne wären, sind Befangene einer höchst seltenen und seltsamen Symbiose. Kein anderes Geschöpf vereint auf so wundersame Art und Weise Arroganz mit Unsicherheit, hält sich für ein Genie, verhält sich aber wie ein Narr, ist ein eitler Geck und sieht dabei auch noch aus wie ein uneitler Geek. Und obwohl der Philosoph eitel genug ist, sich mit schönen Aphorismen auf diversen Internet Communities zu schmücken, obwohl er nicht davor zurückschreckt überall mit großen Leselisten zu prahlen und vielleicht sogar einen kleinen, schlauen Blog unterhält, der sich über Politik und Soziales auslässt, ist der Philosoph noch nie auf die Idee gekommen, sich ordentlich zu kleiden, seine Haare zu bändigen oder zumindest so auszusehen, als wäre er kein Landstreicher. Das Äußerliche, die res extensa - wie er gerne scherzt -, ist dem Philosophen zu banal. Doch bei aller Weltverdrossenheit, bei aller Abgeklärtheit mit dem Banalen und Absurden des Alltagslebens wird der Philosoph doch nicht müde, seinen Geist zu präsentieren, und weil er ein Schöngeist ist, der Philosoph, deshalb hält er sich entgegen dem Augenscheinlichen trotzallem irgendwie für schön und weil außer Geist beim Philosophen nicht viel da ist, wird dieser gleich noch idealisiert und hochgehalten, und dann kann er arrogant sein, weil das Äußerliche, das Sinnliche ja ohnehin nur eine Täuschung ist. Unsicher muss er aber trotzdem bleiben, weil er sich ja jeden Tag ansehen muss, und weil komischerweise kaum jemand mit ihm spricht, weil schon gar niemand ihn angreift und weil er selbst auch noch nie jemanden angegriffen hat.

Und genau so einer ist der Holger, denke ich mir. Dem Holger bin ich schon des Öfteren über den Weg gelaufen, der ist mir schon in diversen Lehrveranstaltungen untergekommen, und der Holger, so scheint es, ist einer, der sich ex negativo bestimmt, ein später Schüler Spinozas vermutlich, weil der Holger einer ist, der eigentlich nie auffällt, und wenn doch, dann eben negativ. Und auch heute stolziert der Holger wieder durch die Gänge, während ich in demselben an der Wand lehne, auch heute wird sein Gang schneller während er uns – mein Kollege schlürft Kaffee und ist obendrein Germanist - passiert und auch heute grüßt der Holger uns (mich) nicht, obwohl er mich kennt, und zwar nicht, weil er nicht will, sondern weil er nicht weiß, ob er soll. Und auch heute schleppt der Holger zwei dicke Bücher mit sich herum und einen Rucksack, der ihn schon mit knapp 25 Jahren so beschwert aussehen lässt, als müsste er Buchberge versetzen. Nachdem der Holger in den sogenannten Sitzungsraum verschwunden ist, verabschiede auch ich mich von meinem Freund und folge dem Holger, der bereits Platz genommen hat und in eines seiner Bücher starrt. Dann dauert es eine halbe Stunde, in der der Holger ruhig vor sich hin liest, bis das bereits am Vortag angekündigte Spitzenqualitätspersonal der philosophischen Fakultät Wien ebenfalls im Sitzungssaal eintrifft.

Das Problem und somit Grund der Verspätung dieses Spitzenqualitätspersonal war technischer Natur, erklärt es, denn für die Präsentation benötige man einen Beamer, und für den wiederum Strom, und da weder das Eine, noch das Andere hatte aufgetrieben werden können, sitzen wir im Dunkeln. Das dreiköpfige Spitzenqualitätspersonal ist angesichts dieser Umstände sichtlich überfordert und es wird die Befürchtung laut, dass das Seminar ausfallen müsse, sofern nicht ein anderes Personal schleunigst eine Lösung finde: einen Haustechniker brauche man, um Spitzenqualität erreichen zu können vermeintlich einen Elektriker oder Mechatroniker, zumindest aber eben einen Haustechniker, den allerdings gibt’s unter den Philosophen naturgemäß nicht und so entschließt sich das Spitzenqualitätspersonal nach 15- minütiger Diskussion, zuvorderst Organisatorisches zu klären, was angesichts des Semesterplans – schließlich halte man hier das erste Seminar zur gestrigen Ringvorlesung - ohnehin angemessen sei.

So wird auch im Akzidens des Stromausfall das weitere Vorgehen nicht dem Zufall überlassen, sondern standesgemäß in klarer Argumentation jeder Schritt sorgfältigst geplant, obgleich dem Qulitätspersonal die Enttäuschung im Gesicht steht, hätten sie uns doch so gerne einen bebilderten Vortrag geliefert, einen mit Spitzenqualitätsmaterial bebilderten Vortrag. Dass man sich von nun an eben an das Wort halten werde, also eine im eigentlichen Sinn philosophische Tätigkeit praktizieren werde und dass schließlich der eigene Kopf immer noch der verlässlichste Wissensspeicher sei wird beschwichtigend gleich in die Argumentation eingebaut, und genau an dieser Stelle durchzuckt es den Holger kurz, der immer noch in seine Bücher starrt, während neben ihm ein so genannter Langzeitstudent an dessen Monumentalwerk schreibt, das gleichzeitig seine Bachelorarbeit darstellen soll. Über den Titel dieser Arbeit wird in den marxistischen Insiderkreisen des Instituts schon lange spekuliert, da der Verfasser – dessen Name hier aus Plagiatsgründen erst gar nicht erwähnt werden soll – diesen vorübergehend geheim hält, allerdings soll das Werk ein neues Licht auf die xenon'schen Paradoxa im Hinblick auf die phänomenlogische Lebenswelt bzw. das heidegger'sche Subjekt- Relative werfen. In diesem Sinne kann sich das Spitzenqualitätspersonal der philosophischen Fakultät auch in Zukunft auf Nachwuchs freuen, während es gegenwärtig über den Leistungsnachweis referiert, der im allgemeinen nicht als Grund zur Sorge aufgefasst werden solle. Grund zur Sorge bereitet mir allerdings der Holger, der neben dem Monumentalwerkschreiber immer unruhiger wird, weil er wie gesagt nicht, oder wenn negativ auffällt, und dabei wäre er so gerne schon einmal jemandem aufgefallen auf der Fakultät, weil auch der Holger gerne ein Monumentalwerk schreiben möchte und weil auch der Holger von seiner Spitzenqualität überzeugt ist, vor allem aber weil der Holger eben nicht weiß, wie er andere Leute davon überzeugen kann, tatsächlich Spitzenqualität in sich zu tragen.

Da letzten Endes die Spitzenqualität aber auch eine Sache der Innerlichkeit zu sein scheint – die res extensa ist noch immer von der Stromversorgung abgeschnitten und somit dunkel – gehen die Spitzenqualitätspersonen dazu über, Referate einzuteilen, weil ein eigenständiger Vortrag uns Wissenschaftler der Zukunft immer noch am Besten auf den wissenschaftlichen Alltag vorbereite, der im wesentlichen aus Kongressen und Vorträgen bestehe. Man sieht auch hier, dass der Vortrag in seiner argumentatio kaum Lücken aufweist, und so wird ebenso konsequent wie rigoros herausgefragt, ob denn schon jemand einen Terminwunsch mitzuteilen habe, und noch bevor die concessio des Lehrpersonals – nämlich die, dass selbstredend noch nicht ein jeder wissen könne, worüber er sprechen wolle – überhaupt zu Ende gesprochen werden kann, durchzuckt es den Holger. Er blickt aus seinem Buch heraus durch seine dicke Leserbrille in Richtung Rednerpult, reißt eine Hand stramm und senkrecht nach oben, während die andere mit einem lauten Knall das Buch zuschlägt, sodass der ganze Raum plötzlich den Holger anstarrt, was dieser mit einem weiteren Zucken quittiert, während sein Blick immer noch das Rednerpult fixiert hat. Der Spitzenqualität hat es daraufhin kurz die Sprache verschlagen, der Monumentalwerkschreiber starrt unverblümt auf den Buchtitel Holgers, der nun erstmals ersichtlich ist, rümpft sich dabei die Nase und der Holger selbst zappelt immer mehr, weil die Spannung seines Körpers denselben sichtlich erschöpft. Endlich lässt die Spitzenqualität – die sich wieder gefunden zu haben scheint – den Holger zu Wort kommen, und der unterbreitet dem Personal seinen Wunsch, gleich das erste Referat zu halten, und zwar zu dem Thema: „Das Husserl'sche Wunder – Die Husserl'sche Entdeckung: Etwas erscheint Etwas“.
Dabei geht ein leichtes Raunen durch die Runde der Studenten, auch der Monumentalwerkschreiber blickt anerkennend auf den Holger, das Spitzenqualitätspersonal zeigt sich hoch erfreut auf Grund des besonderen Engagements und der spitzfindigen Thematik, die der junge Holger darlegen möchte, die weiblichen Lehramtskandidatinnen blicken den Holger bewundernd an und denken dabei „smart is the new sexy“ oder tuscheln darüber, dass ihnen schon der Titel zu hoch sei, woraufhin sie kokettierend lachen, und der große Rest hat scheinbar keine Ahnung, was das Husserl überhaupt sein soll und dort und da findet sich ein Pseudologiker, der sich denkt, der Holger habe seine Hausaufgaben gemacht, weil er die Doppelstruktur von Erscheinen erkannt habe.

Da außer dem Holger noch keiner ein Referat halten wollte, wurden dem Holger auf diese Art und Weise seine fünf Minuten Ruhm zugestanden, womit er eigentlich hätte zufrieden sein können.

Zufrieden war er dann auch, hat sich daraufhin auch wieder seinem Buch zugewandt, ein leichtes Zucken streift ihn zwar, als der Vortragende erwähnt, was er voher zu erwähnen vergessen hatte, dass nämlich die Referate nicht obligatorischer Natur sind, und so muss der Holger jetzt ein Referat halten, das er eigentlich gar nicht halten will, und sonst hält keiner ein Referat und deshalb schaut der Holger auch ein bisschen blöd, weil ihm schon wieder unrecht getan wurde und der Holger das Gefühl hat, es würde das Leben auf ihn regnen.

Und während das Spitzenqualitätspersonal den Raum verlässt stehe ich am Gang und treffe den Germanisten, der schon wieder durch die Gänge schwirrt. Drinnen sitzt noch der Monumentalwerkschreiber, drinnen steht noch der Holger, weil er noch ein paar Seiten im Aufstehen lesen will, und weil er eigentlich nie so recht zurück will in die echte Welt, wenn er gerade im Buch drinnen ist, und weil er – ähnlich wie bei Kant und Königsberg – nie so recht aus seinen Büchern hinaus gekommen ist. Und dann tut mir der Holger zum ersten Mal Leid, weil er nicht nur der typische Phiosophph – er spricht das Wort Philosoph professionsgemäß mit altgriechischer Akzentuierung – ist, der Fäßern Böden ausschlägt, sondern weil er zwanghaft dieser typische Philosoph sein muss und weil sein Hirn schon so viele blödsinnige Gedanken gedacht hat, dass er diese Gedanken gar nicht mehr los wird. Weil er z.B. schon gedacht hat, dass alle Philosophen unglücklich waren und dass es deshalb in Ordnung ist, wenn er unglücklich bleibt, und weil er schon gedacht hat, dass alle großen Philosophen Einzelgänger waren und es deshalb klar ist, dass auch er Einzelgänger bleibt, und weil er denkt, dass er nicht liest, sondern unter Abwesenden kommuniziert, wegen alledem und noch viel mehr tut mir der Holger heute zum ersten Mal Leid und ein wenig schäme ich mich sogar, dass ich denke, dass er solche Sätze denkt, dass ich ihm so gemeine Sätze unterschiebe, aber die Gewißheit, dass er solche Sätze denkt macht ihn für mich unweigerlich zum bemitleidenswerten Subjekt und somit sogar ein wenig sympathisch, und ich frage mich, ob ich nicht einmal reden soll, mit dem Holger.

Aber dann rede ich doch lieber mit dem Germanisten, der wieder einmal davon erzählt, wie er den Physikern mit der Inversionswetterlage zu Leibe rückt, weil die Physiker im Prinzip ja auch Leute vom Schlag Holgers sind, und sich gerne mit Quanten, Quarks, Strings und Superstrings auseinandersetzen, dann aber nicht in der Lage sind, einem Wortspieler zu erklären, was eine Inversionswetterlage ist, bis ihnen dann der Wortspieler erklärt, dass es etwas mit der Umkehr – das weiß er vom Rhetorik- Seminar – zu tun haben müsse, woraufhin die Physiker beschämt abziehen und alles über die Inversion lesen, was ihnen zwischen die Finger kommt. So Einer wäre er also auch noch, der Holger, denke ich mir, und komme zum Schluss, dass es vielleicht nicht die Philosophen sind, die Fäßern Böden ausschlagen, sondern ganz generell Leute, die man umgangssprachlich als Ungustl bezeichnet. Und so entpuppt sich der Holger als hochdeutsches Pendant zum österreichischen Ungustl, was naturgemäß weniger charmant, aber immerhin noch korrekter zu sein scheint. Und wenn der Holger eines ist, dann korrekt, und wenn er eines nicht ist, dann charmant, und somit ist es eigentlich nur fair, dass der Holger Holger heißt, und dass der Holger jetzt ein Referat halten muss, das er gar nicht halten will.
Rischl - 10. Mai, 22:32

und wieso ist das jetzt so. dass die zeilen so breit und gleichsam erschlagend sind? wer will denn da noch lesen.
mein lieber. so geht das nicht.

Aber. So ungut mir der Holger doch zu sein scheint, ihn einen "Ungustl" zu nennen würde ihm Unrecht tun.
Du versuchst, einen Typ Mensch zu benennen, mit einer Bezeichnung aber, die mindestens meinem Verständnis nach nicht passt.
Ein Ungustl ist einer, der penetrant ungut ist. Okay, ich gebe zu, mit seiner gezwungen unpenetrant wirken wollenden Art, weil der Holger so manche gesellschaftliche Norm (Normen, die man an kleinsten Gesten, Räumlichkeiten, Lautstärken etc. ablesen kann – da hüpft in mir das Soziologinnenherz) nur all zu gut gelernt und vermutlich auch Angst vor Zurückweisung zu haben scheint (wenn er sich dich nicht zu grüßen traut), da wirkt er ungut, weil er "dürfte" dich ja anscheinend ansprechen, aber will dich nicht in eine für dich und auch sich eventuell peinliche Situation bringen und wirkt somit (gerade erst dadurch) selbst ziemlich peinlich. Und dir ist es peinlich, dass er peinlich ist.
Aber ungut ist das nicht. Prätentiös ja, aber nicht präpotent. Er ist ja nicht wirklich von sich selbst überzeugt, er tut noch nicht einmal so, als ob er es wäre. Du fühlst ja schließlich doch mit ihm. Eine Sache der Reflexion. Jeder von uns war vielleicht mal ein Holger, aber nicht viele würden sich als „Ungustl“ bezeichnen, so wie ich einen solchen versteh.

Also.
Bremst auch für Holgers.

Die Holger-Retterin.

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