Donnerstag, 6. Dezember 2012

Nachsicht mit den Schauenden.

Die Philosophen - insbesondere die so genannten Empiristen - ergötzen sich gerne an der Einsicht, dass theoreia dereinst bei den Griechen so viel wie "Schau" bedeutet hat. Der Theoretiker war also nicht wie im heutigen Sinn ein Denkender, sondern ein Sehender. Schlägt man anstelle eines Philosophiehiehistorischen Werkes einen Band aus der Sozialgeschichte auf, bemerkt man auch die Ironie dieser ganzen Geschichte: während nämlich im philosophischen Kontext die Denker als ikonenhaft- heroische Figuren gezeichnet werden, finden sich in der Sozialhistorie Darstellungen von sonderbaren und eigenartigen Menschen, von solchen also, die heutzutage der Volksmund gut und gerne "Schauer" nennt.

Die Umstände aber haben sich gewandelt. Der Triumphzug der Theorie, der die Wahrheit im Denken und nicht in der Welt verortet, hat es mit sich gebracht, dass sich langsam aber sicher der Theoretiker nicht mehr für einen schauenden, sondern für einen denkenden Menschen hält. Mit dem Rationalismus ist nicht nur eine Abwendung vom Faktischen einhergegangen, sondern vielmehr eine ganz grundsätzliche Ablehnung jedweder Konkretion. Die "Realität" wird seither mit Argwohn beäugelt - zu Wahrheit führt sie uns nicht, höchstens zu funktionierenden Konkstruktionen.

Diese Überlegung ist aus mindestens drei Gründen verlockend: zunächst einmal erlaubt sie dem Theoretiker Sätze zu produzieren, deren Wahrheit hinter den Dingen liegt, seine Aussagen entziehen sich somit einer faktischen Überprüfbarkeit (eine Strategie also, die längst nicht auf die Religion beschränkt bleibt).
Ferner ist diese Strategie verlockend, weil sie jedem offensteht. Denken, das kann jeder. Es braucht keinen philosophischen Abschluss, um im eigenen Umfeld als schlauer Fuchs zu gelten. Man beobachte nur die Menschen, wie sie diskutieren. Der schlaue Fuchs in der Runde ist immer der, der das unerwartete Argument liefert. Wenn eine Gruppe von Menschen sich über 9/11 unterhält wirkt der Verschwörungstheoretiker schon alleine deshalb als besonders kritisch, weil seine Theorie ein gewisses Maß an allgemeinem Denken erfordert, weil er gewissermaßen das Große Ganze zu fassen vermag - dies tatsächlich auch dann, wenn die übrigen Gesprächsteilnehmer seine Theorie für schwachsinnig halten.
Dies führt uns auch zum dritten - und damit wichtigsten - Anziehungsgrund des Abstrakten: es eröffnet eine Machtposition. Wer mehr weiß als die anderen, genießt ein gewisses Ansehen. Ob der Wissende nun ein Wunderheiler, ein regulärer Arzt oder aber ein besonders belesener Stammtischhocker ist, spielt dabei eine bloß untergeordnete Rolle. Wer seinen Gegenüber davon überzeugen kann, hinter den Fakten das eigentlich Wichtige, die Essenz der Geschehnissen, das Wesen der Dinge zu erfassen, der genießt nicht nur Ansehen, sondern auch Autorität.

Das Faszinierende an dieser Geschichte ist, dass dieses Ansehen und die damit einhergehende Autorität von der Wahrheit des Gesagten völlig losgelöst sein kann. Selbst der größte Unsinn kann für wahr gehalten, selbst der schlimmste Stuss als großer Triumph des Geistes gewertet werden. Und das alles Wissen wir heute schon aus geschichtlichen, faktischen Gründen.

Es ist offenkundig, dass der wohl größte Reiz der so genannten Geisteswissenschaften auf diesen, eigentlich eher primitiven, Fundamenten fußt. Was aber noch faszinierender ist, ist der Umstand, dass dies so selten erkannt wird. Der Theoretiker ist doch, nach heutigem Verständnis, ein denkender Mensch, einer, der sich mit den Waffen der Logik und der Rhetorik der kritischen Reflexion verschrieben hat. Was aber machen nun diese denkenden Menschen, die unvoreingenommenen und kritischen Geister unserer Tage?

Sie sitzen in den Universitäten und schauen in Bücher hinein. Freilich, manche Lesen auch. Aber bestenfalls schauen sie sich dabei die Gedanken eines anderen an, schlimmstenfalls jedoch Glauben sie auch noch, ein Stückchen Wahrheit zu erhaschen. Wahrscheinlich wissen sie von sich selbst weniger als vom Autor des jeweiligen Buches. Und dafür verdienen sie zunächst einmal Nachsicht. Die Naivität, mit der ein Mensch in unseren Breiten an die Hochschulen geschickt wird, ist ihm nämlich regelrecht ins Hirn hineingebrannt. Nicht nur, weil ihm die Schule - zumindest die so genannten Allgemein Höher Bildenden - suggeriert, dass Wissen etwas ganz besonderes sei und die müßige Pflichterfüllung des Schulbetriebs an der Universität ein Ende habe, weil dort nur noch hochinteressierte und hochbegabte Komilitonen ihr Unwensen treiben und keine Pflichten im schulischen Sinn mehr bestehen. Sondern auch, weil ihm Eltern, Umfeld und Gesellschaft selbst einreden, er sei ein ganz besonderer Mensch, ein gebildeter und überdurchschnittlich schlauer, dem die Welt zu füßen liege.
So glaubt der Maturant vor seinen ersten Semestern nicht nur, dass die Universität ein Dürfen, nicht aber ein Müssen, darstelle, sondern er glaubt obendrein auch noch, dass die Universität gerade auf ihn gewartet habe und sich auf der Universität nur Leute seiner Facon finden. Anschließend trifft er auf der Universität auf so genannte Kapazitäten und Kapazunder, die zwar in der echten Welt niemand kennt, deren Wichtigkeit und geistige Größe aber dennoch nicht übersehen werden könne - erst die Nachwelt werde imstande sein, die wahre Größe dieser und jener Lehrpersonen zu erkennen. Und von dieser Faszination der Universität gefesselt, lesen sie und streben sie und schauen in ihre Bücher hinein. Und so mancher wird damit Erfolg haben und selbst zum Kapazunder werden. Je nach Studienrichtung wird ihn sogar die Öffentlichkeit als solchen wahrnehmen. Das muss aber nicht sein. Es kann auch sein, dass die ganze Leserei nur zum Barkeeper in einem Studentenlokal reicht. Dennoch haben sie etwas gemeinsam, der Kapazunder und der Tresenphilosoph: beide halten sich für ungeheuer gescheit und sind auch noch staatlich legitimiert dazu (als ob der Staat Garant dafür stünde zu wissen, was wahr und falsch, gut und schlecht ist; man muss ja tatsächlich dankbar sein dafür, dass er das nicht mehr - oder nur mehr begrenzt - macht, der Staat).
Und dieser Umstand muss bedacht bleiben: wie ein Affe Affe bleibt, bleibt auch ein Schauer Schauer. Darüber kann auch ein Doktortitel nicht hinwegtäuschen. Und für jene Doktoren, die diesen Umstand nicht selber einsehen, ist Nachsicht geboten: sie haben ihre Weltsicht ja nicht verursacht oder gar verschuldet, sie haben sie nur gelebt.

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