Wie es scheint haben selbst die Sandler Ferien. An der Maria-Hülf-Kirche jedenfalls sitzen sie heute nicht. Nur ein vereinsamter nuckelt an seinem Tetra-Pack Rotwein als wäre es die Brust der heiligen Mutter selbst, der Rest ist ausgewandert, wie das sommerliche Wien überhaupt auswandert, wenn es kann. Normalerweise treffen sie sich hier zu Dutzenden, diskutieren, trinken und lachen wie das andere Menschen auch tun. Die einen trinken warmen Wein, die anderen kühles Draft-Beer in Irish Pubs oder ein Achterl Weiß mit Zitrone, je nachdem, wie wichtig man sich fühlt; ansonsten sind die Leute dort wie da gleich. Ich scheine da schon eher eine Ausnahme darzustellen – so wie der Einzelkämpfer, der an die Maria Hülf angelehnt noch immer an deren Busen saugt, als würde es was nutzen – und fahre gerade dann nach Wien, wann sonst der Hitze entflieht, wer nur fliehen kann. Ich frage mich, wohin die Vagabunden wohl ziehen, aber vielleicht haben sie ja auch Familie am Land und sind nur teilzeitarm, vielleicht führen sie ein Doppelleben und sind nur in Wien obdachlos, während sie zuhause vorgeben, in der Stadt das Glück gefunden zu haben. Oder aber sie besuchen Freunde, die am Land obdachlos sind,… Wie dem auch sei: selbst die Bettler machen Hitzeurlaub.
Ich für meinen Teil aber bin unterwegs zu einem Treffen, Urlaub ist mir fremd. Ich soll mich im Kaffee Kafka mit einem Literaturwissenschaftler treffen. Freilich, das ist eine lächerliche Angelegenheit, aber das Nützliche ist oft lächerlich und einschlägige Kontakte haben nicht selten tatsächlich etwas Einschlagendes, sodass man sie gerne pflegt.
Im Kaffee angekommen bemerke ich rasch, dass mein Gesprächspartner noch auf sich warten lässt. Ich setze mich und bestelle ein Bier, zünde dazu eine Zigarette an und bitte das hübsche Mädchen um Zünder, da ich mein Feuerzeug vergessen habe. Lächelnd zündet sie die Zigarette an und verschwindet selbstzufrieden: sie muss bemerkt haben, dass sie mir gefällt, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil: ihre kindliche Freude darüber erfreut auch mich und so trinke ich vergnügt. Tatsächlich gibt es ein Bücherregal voll mit Kafkawerken, an den Wänden hängen Bilder des Dichters. Auch andere Dichter hängen an den Wänden herum, die meisten davon kenne ich aber, ohne mich dafür schämen zu müssen, nicht: zweifellos, der Besitzer hat seine Hausaufgaben gemacht, auch wenn sich Geschäftsgeist und poetisches Wesen nur selten kombinieren lassen und auch hier zeigt sich, dass der Schöngeist nur selten kaufmännisches Geschick besitzt: das Lokal ist beinahe leer.
Plötzlich bemerke ich, dass am Nachbartisch einer sitzt, der ständig zu mir herüberschaut. Vielleicht gefalle ich auch ihm, denke ich mir, aber da er ungepflegt wirkt, wirkt er auch hetero. Zu schäbig, um vergeben zu sein ist es wohl einer, der sein Liebesleben schon aufgegeben hat und sich nun der Kunst oder Ähnlichem zuwendet. Den Stolz der Schwulen jedenfalls besitzt er nicht, zu seinen Ungunsten, wäre er doch mit ein bisschen gutem Willen durchaus nicht unansehnlich.
Unwillkürlich nehme ich nun an dem Gespräch der beiden Männer teil. Es ist ein Verhandlungsgespräch. Der ungepflegte Hetero arbeitet für einen wissenschaftlichen Verlag, der noch ungepflegtere Kerl an dem Tisch sei Mathematiker, der seine Diplomarbeit veröffentlichen wolle. Warum er, als Mathematiker, sich gerade für diesen Verlag entscheiden solle, fragt er. Er dürfte einen günstigen Verhandlungsstandpunkt innehaben, weil er – entgegen seinem eher verkrampften Naturell – ein arrogantes Gesicht aufsetzt. Immer wieder betont der Mathematiker seinen mathematischen Standpunkt. Dabei ist sein mathematischer Geist verobjektiviert: sein fettiges Haar hängt ihm in den Rücken, sein schwarzes T-Shirt ziert ein Unendlichkeitszeichen vorne, hinten steht der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch:
~ (A ^ ~A)
Es ist ihm wichtig, dass das ganze Kaffeehaus und seinen mathematischen Geist wahrnimmt. Ein absurdes Unterfangen, weil das Kaffeehaus ohnehin so gut wie leer ist. Plötzlich – ich trinke inzwischen mein zweites Bier und warte noch immer – springt der Verleger auf und fragt mich erbost, warum ich sie belausche. Das mache ich durchaus nicht, antworte ich dem Paranoiker, auch wenn das gelogen ist. Immerhin war er es, der mich zum Lauschen animierte. Kein Mensch, so der Verleger, gehe alleine ins Kaffeehaus. Ich wolle seine Ideen bezüglich des Buches klauen, ruft er, sodass die Kellnerin aufmerksam wird.
Ich frage ihn, woher er wisse, dass ich alleine sei. Es könnte ja sein, dass ich mit mehreren, nur mir sichtbaren Leuten, an einem Tisch säße. Ich lache dabei versöhnlich und möchte ihn beschwichtigen: ich würde bloß warten und sei an seinem Buch nicht im Geringsten interessiert. Er aber kann über meinen schizophilen Witz nicht lachen. Der Mathematiker sagt, dass er mit einer derartigen Frechheit nicht gerechnet habe. Er meint es durchaus nicht scherzhaft und verlangt nach der Rechnung. Die beiden bezahlen murrend und fragen die Kellnerin, ob sie mit mir unter einer Decke stecken würde. Nun, das wäre doch zu schön, erwidere ich lachend, als plötzlich meine Verabredung eintritt. Schimpfend verlassen die Beiden Figuren das Kaffee und der Herr Literaturwissenschaftler fragt, womit er eine solch kafkaeske Szene eigentlich verdient habe.
Nun, sage ich, eine Wiener Kaffeehausgeschichte erzählt man doch heutzutage wirklich nicht mehr. Schon gar nicht eine, in die ein Paranoiker und ein Mathematiker verwickelt sind und die, unter glücklichen Umständen, mit einer Liebesnacht endet. Eine Kaffee-Kafka-Literaturwissenschaftler-Geschichte. Wer soll denn sowas lesen? Kann man denn sowas überhaupt noch ernsthaft erzählen?
Da lacht der Literaturwissenschaftler: durchaus nicht, durchaus nicht! Sowas erzählt man nicht, heute nicht mehr. Das wäre doch zu billig, zu billig.
Na also, sage ich, und lasse es bleiben.
Für seinen Einfallsreichtum ist der Österreicher nicht bekannt. Für die Kreativität wird er ja nicht bezahlt und überhaupt gibt es keinen Grund, Kreatives zu tun und es macht hierzulande, so scheint es, niemand etwas, ohne irgendeinen fadenscheinigen Grund zu haben. Weil der Österreicher in dieser Hinsicht also ein Zweck-Mittel-Rationalist ist, ist seine Kreativität die reinste Prgamtik. Wenn er zum Nachdenken gezwungen ist, generiert er durchaus Output, allerdings ist dabei sein Maßstab weder das Schöne, noch das Gute oder das Amüsement, sondern lediglich das Zweckdienliche. Deshalb isst der Österreicher immer dasselbe: vom Schweins- über den Kalbslungenbraten bleibt der Braten, er trinkt immer das Gleiche – vom Apfel- bis zum Hollunderblütensaft bleibt der Saft –, und die Ortschaften heißen alle Brunn, Bruck, Berg oder Feld mit einem Zusatz, der den genaueren Zustand dieser Ortschaften charakterisieren soll: Seefeld, Landsberg, Bruck an der Leitha und Hollabrunn zum Beispiel. Immer dasselbe Spiel führt den Österreicher also zum Erfolg: diese Strategie, ein Wort mit anderen Wörtern genauer zu charakterisieren, macht ihm seine Welt handhabbar und einfach. Das ist zwar nicht schön, aber dafür unkompliziert.
Ein großartiges Beispiel für diese Charakterisierungen liefert uns das so genannte Weinviertel. Das Weinviertel beschreibt das, was es ist, derart treffend, dass einem in den Sinn kommen könnte, der Kaiser habe seinerzeit die Essenz dieser Gegend in ein Wort verpackt und damit die Idee im Begriff festgehalten. Da der Kaiser aber mit Sicherheit kein Platoniker, sondern wohl eher kaiserlich-königlicher Pragmatiker war, stellt sich die Frage, ob selbiger überhaupt wusste, was er tat, wenn er das Weinviertel als Weinviertel definierte, oder aber ob er einfach seinem tiefen, habsburgischen Instinkt – diesem tiefen österreichischen Urinstinkt stets der Handhabbarkeit entgegenzudenken – gefolgt ist. Das Essentialistische am Begriff Weinviertel ist nämlich nicht nur die Ortsbeschreibung – ein Viertel, in dem hektarweise Wein vor sich hin wächst, sondern darüber hinaus auch noch der Umstand, dass das Leibgetränk eines jeden Weinviertlers das Weinvierterl ist, und das, eo ipso, jeder Weinviertler auf doppelte Weise als regelrechter Weinviertler durchgehen kann: einmal eben als jener Typus Mensch, der in der Gegend des Weinviertels zuhause ist, ein andermal als jener Typus, der sich den Wein viertelweise in die bäuerlicher Figur hineinkippt. Damit nicht genug: der Weinviertler gebraucht das Wort Weinviertel nicht nur nominal, sondern auch als so genanntes Tun-Wort: Weinvierteln, das ist etwas, das man auch tun kann, zumindest im Weinviertel. Der Weinviertler geht in der Regel auf ein paar „Vialn“, und – durchaus dem österreichischen Pragmatismus folgend – er muss dazu nicht notwendigerweise einen ganzen Satz: „Gemma auf a boa Vialn“ ausformulieren, er kann auch einfach fragen, ob man nicht „Vialn“ gehen wolle. Dies hilft dem Weinviertler vor allem, wenn er schon ein paar solcher „Vialn“ intus hat und sich die unnötigen, zungenbrecherischen Worte, ersparen will, wo er nur kann.
Nicht nur aufgrund sprachlicher Kuriositäten oder habituellen Untersuchungen des Österreichers an sich aber lohnt ein Besuch in das Weinviertel. Diese durchaus sterbende Gegend geizt nicht mit landschaftlichen Reizen, und auch Speis und Trank sind von höchstem qualitativem Gut. Wer den biederen Bergmenschen, den für seine Breite zu kurzen und für seine Kürze zu breiten Bergbauerntypus, wie er in Zell am See und anderen hochalpinen Gegend zuhause ist, gewohnt ist, wird sich auch der Freundlichkeit des Weinviertlers erfreuen können. Der Weinviertler ist nämlich im Gegensatz zum Bergmenschen durchaus erfreut, wenn er Fremde begrüßen darf, er lädt diese gerne auf ein „Vial“ ein und auch wenn sich der Verdacht, dass diese Freundlichkeit vielleicht nur eine ertrunkene ist, nicht abschütteln lässt, so ist sie dennoch vorhanden, findet sich doch anderswo – nicht nur in den Bergen, auch der Wiener ist von solcher Art – nicht einmal im Rausch jene Freundlichkeit, die dem Weinviertler anhaftet.
Ja, weil die meisten Menschen aus dem Weinviertel wegziehen, weil es dort außer Wein und Weinvierteln nicht viel zu tun gibt, freuen sich jene hartgesottenen und verbliebenen Weinviertler durchaus über Fremde, während sie anderswo eigentlich unerwünscht sind und nur des Geldes wegen als notwendiges Übel des Überlebens geduldet werden. Der Weinviertler bemüht sich regelrecht um jene Verirrten, die ihn besuchen kommen, die hervorragende Qualität der Lebensmittel und die idyllischen Plätze jener vergessenen Genussregion sind einen Besuch durchaus wert, vor allem, weil das Weinviertel Preise anschlägt, die einem Pinzgauer und Wahlwiener beinahe unverschämt günstig erscheinen.
Insofern darf der Pragmatismus in dieser Region nicht verwundern: was sollen sie ihre Begriffe ästhetisch aufladen, wenn das Schöne vor der Haustüre wartet? Was sollen sie das Gute suchen, wenn sie es täglich zubereiten? Und was sollen sie schließlich das Amüsement forcieren, wenn sie doch von mehr Wein umgeben sind als man, ja als Diyonisos selbst je saufen könnte?
Dass das Weinviertel nichtsdestotrotz eine sterbende Gegend ohne Arbeit und Perspektive ist, ist ein trauriger, ein bedenklicher Umstand. In den Dörfern tummeln sich alte Leute, die Jungen zieht es in die Städte und der Tourismus, der in den Bergen dieser Tendenz zumindest partiell Einhalt gebieten kann, ist hier nicht stark und lukrativ genug, um sie zurückzuhalten. Aber wer den Massentourismus gewohnt ist, wird auch dieser entschleunigenden Leere einiges abgewinnen können und vor allem für den Besucher wartet hier das beste Angebot, weil die entsprechende Nachfrage fehlt. Während im Pinzgau ein jeder Besucher nur einen Preis hat, wird demselben im Weinviertel auch ein Wert zugestanden, könnte man Kant sagen. Aber mit Kant will man bekanntlich (Vgl. "Das große Wagnis") nichts sagen.
Johann Gottfried Seidl war der Schöpfer der österreichischen Kaiserhymne - "Gott erhalte, Gott beschütze..." Eine solche nationale Indentitätsstütze, scheint es, wirkt heute noch, sind doch die drei großen Pfeiler des Österreichischen Gott, der Kaiser, und das Seidl!
Man überlege einmal, was es hieße, heute als so genannter "Stürmer und Dränger" zu gelten. Kaum etwas kann ähnliche Peinlichkeit wie diese Titulierung hervorrufen. "Er war Stürmer und Dränger" - das ist mindestens so lächerlich wie eine Formulierung jenes Skriptes, das mich diese Lächerlichkeit denken ließ:
"Familienromane", steht in diesem Skrpitum, "sind besonders interessant, da die erzählten Familien immer anders aussehen."
Heureka!
Lieber Damon, dein Begehren,
dich zu lieben, geh ich ein,
aber willst du mir auch schwören,
ewig mir getreu zu sein?
Liebe Doris, dein Begehren,
geh ich mit Entzücken ein,
aber willst du mir auch schwören,
ewig jung und schön zu sein?
Den guten alten Kant zu zitieren ist freilich so eine Sache. Einerseits ist es beinahe eine Frage des Geschmackes, paradoxerweise einem - man ahnt es - kantianischen Begriffe, ein solches Zitat zu unterlassen. Kant zitieren, das ist beinahe, als schaufelte man Sand in die Wüste hinein. Diesen Kant haben schon ganz andere zitiert und man tut wahrlich niemandem einen Gefallen, wenn man sich dieser Liste anschließt.
Andererseits aber hat der alte Königsberger ja zitierfähiges Material genug hinterlassen. Man muss dazu auch gar nicht all zu tief in die Kritiken hineinsinken. Man kann auch einfach der Frage, was denn Aufklärung eigentlich sei, nachgehen, und wird rasch Weisheiten finden, deren Aktualität aktueller eigentlich kaum sein könnten. Vor einem solch pleonastischen Sprachgebrauch hätte sich Kant freilich gehütet, auch wenn Nietzsche ihm nachgewiesen hat, dass Kant seine Morallehre "Vermöge eines Vermögens" begründet hat, und d.i.: er hat sie nicht begründet (so zumindest Nietzsche). Ich für meinen Teil schäme mich eines solchen Pleonasmus nicht und wenn der Kant sich daran stört, kann er sich zugleich freuen, nach wie vor eine aktuelle Aktualität zu sein, wenn er feststellt:
"Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufen dienen."
Eine solche Satzung könnte man den Linkswendlern, die nun allerorts den großen sozialen Umbau proklamieren, weil dort und da ein paar Demonstrationen aufbrechen, eben so gut vor den Kopf werfen wie den Rechten, die - aus selbem Grunde - eine konservative Revolution prognostizieren. Ein solche konservative Revolution ist vielleicht geschichtliches Novum, nicht aber das Zustandekommen eines solch revolutionär-konservativen Denkens.
Aber wie gesagt: der Geschmack verbietet einen solchen Rückgriff auf Kant und wer ihn doch wagt, dem wird von Links oder Rechts einer den Vorwurf machen, dass Kant doch "von der Geschichte widerlegt" sei. Ob das nun wieder stimmt, weiß keiner, aber es klingt mindestens so schlau wie das Kant-Zitat selbst. Dafür erspart man sich, wenn man die Geschichtswiderlegungsvariante konsequent anwendet, die Kantlektüre. Und das ist ein ganz enormes Ersparnis.
Ob dieser Eintrag nun geschmacklos ist oder nicht entscheide der Leser. Er kommt zustande durch halbherziges Sparen. Hätte ich die Kritik der Urteilskraft nicht nur angelesen, sondern durchgelesen, wüsste ich bestimmt, wie es um diesen meinen Beitrag bestellt ist.
Leicht nervös fummle ich in meinen Hosentaschen, in mir herrscht Unruhe. Der Bergfriedhof, dessen Wiese bei jedem Schritt schmatzt und dessen Feuchte bei jedem dieser Schritte ein wenig tiefer in die Turnschuhe dringt, liegt auf einer Anhöhe mit Seeblick. An sich eine schöne letzte Ruhestätte, denke ich mir, aber an verregneten Tagen – und hier sind die meisten Tage verregnet – überkommt Einen dennoch und unweigerlich ein Ansturm von Tristesse und Unruhe, wenn er sich auf diesem Friedhof aufhält und den Fehler begeht, über selbigen auch noch nachzudenken. Ich stelle mir vor, wie ich eigentlich gerade im Leichensaft stehe und weil ich weiß, dass dieser Friedhof sein 100-jähriges Jubiläum bereits hinter sich hat, mischt sich die Unruhe mit Grauen. Weil aber der Totengräber unweigerlich – ursprünglich hatte ich ja die Hoffnung, dieser würde nicht auf mich, sondern bloß in meine Richtung, steuern – auf mich zukommt, bohrt sich wieder die Frage, worüber denn mit ihm zu sprechen sei, in die Oberfläche meines Bewusstsein.
Da mich weder die Zukunftsangst noch eine gegenwärtige Wartungsarbeit auf den Friedhof treibt, fällt ein Gespräch über Geschäftliches ins Wasser. Auch Persönliches habe ich mit dem Totengräber nicht auszutauschen, ich kenne den Mann nur vom Hörensagen, wie man Totengräber prinzipiell nur vom Hörensagen kennt – wer ihn kennen lernt, sagt man am Land wenig schmeichelhaft, habe es für gewöhnlich ‚hinter sich gebracht‘. Dahinter verbirgt sich neben der ländlichen Hauruck-Mentalität karger Gebirgslandschaften wohl ein sozialer Fakt und ich hoffe - da ich an meinem Leben hänge -, dass er sich nicht bewahrheiten möge.
Der Totengräber wirkt alles andere als unruhig. Er ist ein mächtiger Mann, wie ich bemerke, groß, kräftig. Er hat einen regelrechten ‚Plutzer‘ denke ich mir und freue mich, dass mir ein so schönes Dialektwort für seinen Wasserkopf eingefallen ist. Der Plutzer ist es auch, der mich zunächst von meiner Unruhe befreit, weil ich innerlich ins Schmunzeln gerate und der Totengräber ebenfalls lächelnd vor mich tritt und mich fragt, ob ich einmal Probe liegen wolle. Dabei lacht er heftig, wodurch sein Plutzer beinahe unnatürlich heftig von einer Seite zur anderen geschleudert wird. Erst jetzt bemerke ich die unwirkliche Größe der Hände des Totengräbers, der auf mich herunterblickt wie auf einen Schulbuben.
Ich erkläre ihm, dass ich eigentlich mit meinem Freund – dem Friedhofswärter – hier verabredet sei und ihn, den Totengräber, nicht von seiner Arbeit abhalten wolle solange ich auf ihn, den Friedhofswärter und also meinen Freund, warten müsse. Der Totengräber erwidert, dass ihm hier ohnehin nichts davonlaufe. Dabei beginnt sein Plutzer wieder heftig zu wanken und ich befürchte einen Augenblick lang, dass er abfallen könnte, was angesichts des dünnen Halses, auf dem er befestigt ist, alles andere als unwahrscheinlich wirkt.
Der Totengräber fragt mich, ob ich aus der Gegend sei und ob ich gedenke, auch einmal hier zu ruhen. Ich verneine beides, erzähle ihm, dass ich mich, zwar hier aufgewachsen, schon einige Zeit in den Städten unseres Landes aufhalte und dass ich mich, in ferner Zukunft, einmal einäschern lassen wolle. Da nickt der Totengräber bekräftigend und sagt, dass einäschern ohnehin gescheiter sei. Sowohl ökonomisch – „ vor ollem am Laund sand die Grobplätz knobb“ als auch ökologisch – „außerdem rinnt, an Taugen wia heind, da gauonze Friedhof an See eini.“ Bei diesen Worten muss ich unweigerlich an Thomas Bernhard denken. Ich frage den Totengräber, wie viele Leute er jährlich einzugraben hat. Das wisse er nicht, erwidert er, es seien zu viele. „5,6 de Wochn, in orgen Wouchen warns schon moul 13,14 auoch.“ Aufs Jahr zähle er nicht mit. Angesichts des kleinen Städtchens sind wöchentlich 6 Tote eine ganz ordentliche Zahl, denke ich, beinahe erschrocken.
Der Totengräber erzählt, dass es manchmal schwierig ist, die Leute zu verscharren, vor allem, weil hier alles so feucht ist. Seinerzeit, als er noch in der Steiermark Tote begrub, kannte er solche Probleme nicht, weil da alles trocken war. Aber hier sei alles ein bisserl kurios. Da habe er schon Leute exhuminiert, die nach 12, 13 Jahren nicht verfault gewesen waren, weil unter dem Friedhof das Grundwasser so hoch sei. Auch die Gruften der Reichen erzählt er mit einem Schmunzeln, stehen für gewöhnlich unter Wasser. „Wennst dou die Tür aufmouchst, kounns da passieren, dass da a Soarg entgegnschwimmt“ sagt er mit einem Lachen, das den Plutzer hüpfen lässt. Dann muss die Wasserrettung kommen und die Gruft auspumpen, erzählt er, was bei den Wasserrettern nicht selten zu Übelkeit und Erbrechen führe.
Über den eigenartigen Witz des Totengräbers muss ich lachen. Er scheint ein eigenartig lebensfroher Mensch zu sein, dieser Totengräber. Er hat den morbiden ‚Schmäh‘ des Wieners, spart sich aber den ebenfalls morbiden ‚Grant‘ desselben, denke ich. Jedenfalls amüsiert mich dieser Totengräber; er erzählt noch ein paar Anekdoten über das Friedhofstreiben, die allesamt von außerordentlicher Absurdität sind, so dass ich immer öfter in das Wanken des Plutzers miteinstimmen muss.
Zum Beispiel habe einmal eine alte Dame ein Grab für sich reservieren wollen. Sie habe ja schließlich niemanden gehabt, der noch dafür Sorge hätte tragen können und schließlich – so der Gedanke der Dame – müsse auch sie irgendwo liegen. Der Totengräber aber habe aus Platzgründen keine Reservierungen annehmen können. Er brauche die Plätze für die wirklich Toten und nicht für die, die es bald sein werden. Die alte Frau war daraufhin, so der Totengräber, etwas enttäuscht von Dannen gezogen, weshalb sich der Totengräber genötigt sah, ihr noch einmal zu versichern, dass bei ihm noch alle ‚ein Platzerl‘ gefunden hätten.
Ein anderes Mal, erzählt der Totengräber, habe die Tochter eines Verstorbenen versucht, dessen Grabstein auszutauschen, habe dabei aber am falschen Grab herumgepfuscht. Sie wollte den Grabstein bei ihr im Garten aufstellen, erzählte sie später der Polizei, als in den nächsten Tagen eine Anonymanzeige wegen Grabschändung durch die Bezirksblätter grassierte und die Tochter schließlich bemerkte, dass ihren Garten der Grabstein eines Fremden zierte.
Inzwischen war auch mein Freund, der Friedhofswärter, angekommen und hatte sich zu uns gesellt. Der Totengräber verabschiedete sich – auf ihn warte schließlich immer Arbeit, wahrscheinlich sei er so etwas wie der moderne Sisyphos, sagt er und verabschiedet sich. Ich wundere mich über diese Bemerkung und frage mich, ob dieser Mensch echt ist. Ein lustiger, obendrein gebildeter Totengräber am Bergfriedhof in Zell am See weckt in mir kurzzeitig den Gedanken, langsam aber sicher dem Irrsinn zu verfallen.
Ich frage deshalb meinen Freund, den Friedhofswärter, nach dem Totengräber.
Dieser aber bemerkt beim Wegmaschieren lapidar nichts weiter, als dass für den Totengräber das Grab stets halbvoll sei. Auch er, der Friedhofswärter, scheint sich seinen Witz vom Totengeschäft nicht vermiesen zu lassen und ich denke mir, dass es vielleicht keine ungesunde Lebenseinstellung ist, vom halbvollen Grab auszugehen. Vergnügt über das viel zu seltene Wiedersehen ziehen wir vom Friedhof in Richtung Friedhofslokal und trinken ein Bier, unterhalten uns. Viel zu schnell sind die Gläser halb leer, sage ich zum Friedhofswärter. Ja, erwidert er lachend, aber immerhin lebt man in einer feuchten Gegend. Schneller als ich schauen kann sind die Gläser wieder halb voll. Der Barkeeper zwinkert mir zu und ich denke mir, dass auch hier einer Sisyphos-Arbeit leistet.
Mittelschlechte Dichter zeichnen bemühte Bilder moderner Bedeutungslosigkeit. Texte, so leicht wie Dünensand, hängen in der Luft und ziehen nicht nach unten, nicht nach oben. Sie kennen keine Vertikalitäten mehr, diese Dichter. Weder hinauf zu Gott, noch in Nichts hinunter schreiben sie.
Ein armer Leser fragt verwirrt, was er mit dieser horizontalen Schwebe anfangen soll.
Nichts! ruft der Dichter.
Nichts anfangen, nichts aufhören, nur schweben soll er.
Der Dichter schreibt fragmentarisch- stakkatohafte Weltskizzen und schämt sich dafür. Er erfüllt eine Endlosschleife, Kassettenband der Weltgeschichte, ein poetischer Stummfilm.
Form ohne Inhalt, Wiederholung einer Wiederholung, zitiertes Zitat, aber ausgehölt, ausgelöffelt. Die Bedeutung aus den Worten herausgelöst, zerrinnt wie Tinte auf Löschpapier in alle Richtungen. Sinn zerstückelt sich.
Der arme Leser rennt ihm nach. Sinnstücke als Bruchstücke, der Bruch als Ausdruck der Moderne, denkt der Leser mit einem Vielleicht auf der Zunge. Was weiß er schon, denkt er sich.
Nicht mehr als der Dichter.
Will Bleibendes stiften, in den Flügelstoß, die Schallwelle des Werdens einen Funken stellen, der nicht erlischt.
Was gelingt ist ein diffuses Lodern in alle Richtungen, langsam erlöschend im Wind der Zeit, aber eben doch: erlöschend. Aufgespalteter Sinn, der langsam zu Ende geht.
Vielleicht nicht nur erlöschend, denkt der arme Leser, vielleicht sogar erlösend.
Sinn-Freiheit.
Wie immer um diese Zeit steh' ich leicht wankend vorm Cafe Absurd. Am Gehsteig mein Tisch, am Tisch meine Gläser. Heut' ist wieder Wodka-Nacht, ein Schuss ein Euro. „Absolut“, grinst der Besitzer, wenn man ihn nach dem Fusel fragt, „Absurd“ schrei' ich ihm entgegen. Beide lachen wir, wie immer.
Gegenüber steht der Kepler auf seinem Balkon im zweiten Stock. Der Balkon schaut aus wie ein zu breiter, dafür aber auch zu kurzer Penis, der an einem zu quadratischen Mann hängt. Eigentlich also überhaupt nicht wie ein Penis, denk' ich mir und frag' mich, ob mich der absurde Fusel überall Schwänze sehen lässt, oder ob dafür mein krankes Hirn selbst Verantwortung trägt, weil eines ist klar: ich bin nicht schuld!
Der Kepler schreit Unverständliches vom Balkon herüber. Ich schrei' ihm zurück, dass er gefälligst herüber kommen soll. „Man muss wissen“, erzähl ich derweil dem absurden Barmenschen, der mir immer den Vodka macht, „dass der Kepler ein kauziger Typus ist. Der Kepler,“ sag' ich, „der Hund hat einen Vogel. Weil der Kepler immer die deppertsten Ideen hat. Schau' ihn dir an, sag ich zum Barmenschen, den Kepler, wie er da auf seinem Balkon steht, eine raucht er nach der anderen und sauft ein Wasser dazu.“
Der Barmensch will wissen, warum der Kepler heut nicht wie sonst auch im Absurd ist.
„Jaja“, sag ich. „Wollt ich e' grad loswerden. Also der Kepler, der Hund hat einfach die deppertsten Ideen. Der heißt eigentlich ja auch Kabaler, aber der ist auf einmal auf die Idee gekommen, dass er jetzt nach Linz muss. Zum Studieren. Einfach so. Auf einmal nach Linz“, sag' ich.
„Wir waren unterwegs“, erzähl ich. „Der Kepler, noch ein paar andere Leute von uns und eben ich, und auf einmal sagt der Kepler, er geht nächstes Semester nach Linz, an die Johannes Kepler Uni nach Linz wollte er auf einmal, der Kepler – damals haben wir noch Schiller zum Kepler gesagt, weil, e' scho' wissen, Kabaler und Liebe, quasi.“
Der Barmensch lacht, ich bestelle noch einen Vodka. Von Gegenüber schreit der Kepler irgendeinen Blödsinn herüber, ich sag' ihm, er soll sich nicht so anscheißen und endlich herüber kommen, aber der Kepler winkt ab.
„Auf jeden Fall“, sag' ich zum Barmenschen, „ist das ja eine absurde Idee, einfach so nach Linz zu wollen, weil Linz, die so genannte Stahlstadt, wer will denn schon nach Linz? Graz von mir aus“, sag ich, „Innsbruck, wenn's wer mag, aber Linz? Was soll man denn in Linz? Aber der Kepler ist beinhart nach Linz gegangen und hat zwei Semester lang an der Kepler Uni in Linz studiert, und dann ist er zurückgekommen aus Linz, der Kepler, und hat eingesehen, dass das eine ganz depperte Idee war, nach Linz zu gehen, hat ihn 2 Semester gekostet und einen Batzen Geld, und was hat er davon? Nix.“ „Einen neuen Spitznamen halt“, sagt der Barmensch. „Ja“, sag' ich.
„Und jetzt hat der Kepler halt schon wieder so eine sau-depperte Idee“, sag' ich, „weil sich der Kepler jetzt einbildet, dass er nix mehr saufen will. Einfach so. Ist dem einfach so aus dem Himmel heraus eingefallen wie damals die Sache mit Linz. Der Hund hat einen Vogel.“
Der Barmensch lacht. Wir beide trinken mittlerweile, weil außer dem Barmenschen und mir – und dem Kepler gegenüber – kaum Leute anwesend sind.
„Das Problem“, sag' ich dem Barmenschen, „ist, dass außer mir und dem Kepler keiner mehr übrig geblieben ist, von unserer Truppe. Nur noch ich und der Kepler“, sag' ich. Mittlerweile stürzen mir die Wörter wie von selbst aus dem Kopf heraus, „mit dem Saufen“ sag' ich, „verflüssigt sich der Sinn. Das hat nix mit Psychologie zu tun, Physik ist das!“
Flüssiges macht fließende Gedanken, aber der Barmensch versteht nicht.
Er, sagt er, habe nie studiert. Von Physik wisse er schon gar nichts.
„Macht nix,“ sag' ich, „der Kepler auch nicht. Zehn Jahre Uni“, sag' ich, „aber studiert hat der Hund nie! Ich auch nicht, studiert hab ich nie. Uni gehen Ja, studieren Nein“, sag' ich und trinke.
Irgendwann sagt der Barmensch, dass er jetzt schließen muss. Ich trinke noch einen Schnaps, weil der Vodka schon aus ist.
„Hast mich leer gesoffen“, grinst der Barmensch. „Sei froh“, sag' ich, „dass dir deinen Fusel einer wegsäuft, überbleiben darf der eh nicht, sonst sperren's dich noch ein, wenn das wer sieht, was du da verkaufst!“
Der Barmensch lacht und sperrt die Türe zu. Drüben am Balkon sitzt der Kepler noch immer. Ich schrei' ihm hinüber, aber er schläft schon. Werf' einen Zigarettenstummel nach ihm, da kratzt er sich am Kopf. „Kepler“, schrei' ich, „jetzt geh halt mit!“
Aber der Kepler schüttelt den Kopf. Er müsse morgen arbeiten, meint der Kepler. Er habe lang genug studiert. Ich sage ihm, dass er noch lange genug arbeiten werde, aber er meint es ernst.
Er hat mir unlängst auch gesagt, er habe ein Mädchen kennen gelernt, in der Arbeit. Da haben wir noch getrunken, aber nicht mehr viel, denke ich, nicht mehr so wie früher.
„Wie ist das jetzt“, frag' ich ihn mit lockerer Zunge, „mit dir und dieser Caro?“ Er sagt, sie sehen sich morgen, sind zum Essen verabredet.
„Aber Donnerstag“, sag' ich zum Kepler, „Donnerstag, das war doch Pub-Quiz Night! Seit Jahren, außer dem Linz-Intermezzo schon seit Jahren gehen wir donnerstags zum Pub Quiz, aber der Kepler meint es ernst. Es sei Zeit für ihn, sagt er.
Ich blicke auf den Balkon, der Kepler meint, er lege sich jetzt ins Bett. „Du hast ja auch immer die deppertsten Ideen“, schrei' ich zum Kepler hinauf, „Komm runter jetzt, ein schnelles noch im Anno!“ Aber der Kepler schüttelt wieder den Kopf und geht hinein.
Ich schaue auf die Uhr, sehe zu viele Zeiger und muss den nächsten Passanten fragen, weil ich das Ziffernblatt nicht mehr lesen kann.
„Kurz nach Mitternacht“, sagt der und geht weiter.
Gibt’s auch nur in Wien, denk ich mir, dass dir um Mitternacht noch einer stehen bleibt, anderswo gibt’s das nicht mehr. Kurz nach Mitternacht, denk' ich und gehe nachhause. Vielleicht ist es wirklich Zeit, sage ich mir: ja, vielleicht ist es Zeit.