Freitag, 2. Dezember 2011

Erstes Hauptstück: Vom existenziellen Zweifel am Grund.

Yilmaz, der sich seines persönlichen Unglückes und der absoluten Untragbarkeit seines Lebens immerzu und stets gewiss gewesen war, begann plötzlich, an dieser einen Urtatsache seines Daseins zu zweifeln.


Als Sohn türkischer Emigranten - sein Vater war auf den Spuren des Sultans Mehmed IV. in der ehemaligen Residenzstadt zu Wien stecken geblieben, hatte sich am Institut für Orientalistik der philologisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät beworben und prompt eine Berufung für türkisch-europäische Geschichte erhalten - war Yilmaz freilich in gewisserlei Hinsicht tatsächlich benachteiligt gewesen. Auch wenn niemand ernsthaft bezweifeln würde, dass Yilmaz ein kulturell assimilierter Türke war, der zwar, aufgrund der Bildung des Vaters seine eigenen Wurzeln kannte, allerdings längst nicht mehr nach denselben lebte, so konnte doch niemand die biologische Tatsache mindern, dass Yilmaz nicht aussah wie seine Klassen- und Schulkollegen, später seine Universitätskommilitonen, eine Tatsache, die trotz der westlichen Lebenseinstellung, dem säkularen Weltverständnis – das übrigens nicht erst in Österreich erworben wurde; es wäre doch naiv zu glauben, dass westliche Wertvorstellungen türkische Oberschichten nicht schon erreicht hatten, bevor Emigrationswellen auf das Abendland hereinbrachen – und der perfekten Handhabung der Deutschen Sprache zu gelegentlichem Spott und Hohn führten. Dennoch konnte gerade diesem jungen Mann, war er doch, wie man sagt, aus gutem Hause entstammend zum Bildungsbürger avanciert, dennoch konnte also gerade diesem jungen Mann nicht nachgesagt werden, er sei im sozialen Brennpunkt aufgewachsen, habe es im Leben schwerer gehabt als andere, wobei hier natürlich bereits aus Gründen der Fairness anzumerken ist, dass wohl kaum jemand das eigene Dasein als leicht empfinden wird, mehr noch, dass Unglück nicht mit den jeweiligen Lebensumständen korrespondieren muss, und dass, schließlich, Unglück überhaupt keine messbare Größe darstellt, womit freilich ein Vergleich verschiedener Unglückszustände von vornherein unsinnig ist.
Yilmaz jedenfalls war schon lange von seinem Unglück überzeugt, und er war sich auch, entgegen jeder vernünftigen Überlegung, der Besonderheit und der überdurchschnittlichen Tragik seines spezifischen Lebens gewiss. Diese Gewissheit unter den Leidenden der am Leidenschaftlichsten Leidende zu sein, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, der Glaube, ein ganz persönliches, privates und unteilbares Leid erdulden zu müssen die Grundfeste seines Daseins. Zeit seines Lebens stand er sich selbst als Auserwählter gegenüber. Erklärungen hierfür gab es viele: seiner besonderen Intelligenz verdanke er auch eine besondere Klarsicht, die ihn schließlich auch in die Niedergeschlagenheit trieb; sein Herkommen, sein kulturelles Erbe mache ihn zum Fremden, auch wenn er nicht wirklich fremd ist, so fühle er dennoch, dass er irgendwie anders, irgendwie speziell war; seine spezifische Genstruktur sei letzten Endes verantwortlich dafür, dass sein Gehirnstoffwechsel nicht ausreichend Glückshormone ausschütte.


Gemeinsam war diesen Theorien über die Ursprünge des Unglücks jedenfalls die Besonderheit, die Jeweiligkeit seines Zustands, die ihn zum Auserkorenen machte, zum einzelnen Schicksalskämpfer, dessen untragbarer Zustand nur ihm selbst bewusst ist. Eine solche Subjektivitätsmetaphysik der Besonderheit, des Auserwähltseins und damit der absoluten Individualität kann freilich nur einem Abendländer bzw. einem monotheistischen Weltbild zugerechnet werden. Überhaupt ist die Individualität eine westliche Streitmacht im Kampf der Kulturen – eine höchst erfolgreiche Streitmacht, wie sich heute zeigt, deren Ursprung womöglich der perfide Prophetismus selbst ist, der uns seit Jahrtausenden östlich des Bosporus im Mohammedanismus, westlich davon im Katholizismus, umtreibt.


In solchen zutiefst geschichtsphilosophischen Gedanken verfängt sich Yilmaz allerdings nicht. Dennoch schleichen sich seit geraumer Zeit Zweifel in die Grundfeste seines Daseins ein. Schließlich hat ihm das Schicksal nicht selten einen Gefallen getan. Angst vor der Autorität hatte er zu seinem Glück zur richtigen Zeit – in der Schule war er ein fleißiger, ein braver Schüler. Sein Bruder hatte dieses Glück nicht. Heutet fürchtet er das Leben. Ohne Ausbildung und besondere Talente ist die westliche Welt tatsächlich zum Fürchten: der Durchschnitt, der wir alle sind, will niemand sein. Yilmaz hat das geschafft – was Einkommen, Erfolg und Ansehen betrifft, ragt er aus der Mittelmäßigkeit: Matura mit Auszeichnung, Jusstudium in Mindestzeit, mittlerweile führt er eine eigene – die erste türkische – Rechtsanwaltskanzlei in Wien, was ihm nicht nur im interkulturellen Rechtsverkehr eine herausragende und bedeutende Rolle zuschanzt, sondern darüber hinaus auch einen privaten türkischen Kundenstock verschafft, der enorm ist. Seine Partnerschaft funktioniert, auch wenn einer Hochzeit die Konfessionen und, vor allem, die konservativen Eltern seiner Freundin, im Wege stehen. Seine Kinder sind gesund.
So kommt es, dass Yilmaz vor seinem Spiegel erschreckt: der Grund seines Unglücks, und damit der Grund seiner Grundfeste überhaupt, ist völlig unklar, mitunter ist sein Unglück sogar völlig grundlos, seine Grundfeste nicht mehr als eine weiche, sumpfige Oberfläche. Ja, so dämmert Yilmaz, vielleicht ist sein ganzes Unglück nicht mehr als Einbildung. Vielleicht, so die Stimme im Kopf, die einmal Deutsch und einmal Türkisch mit ihm spricht, vielleicht ist dieses Unglück nichts als eine Illusion, vielleicht glaubst du nur, unglücklich zu sein, vielleicht bist du es gar nicht.
Aus anderen Augen hat er noch nicht herausgeschaut, aus anderen Hirnwindungen noch nicht herausgedacht: woher also die Anmaßung zu wissen was es heißt, unglücklich zu sein? Eine ganze Individualität, eine ganze Persönlichkeit auf einem solchen durch und durch vagen und unklaren Begriff aufzubauen, ein ganzes Leben der Überzeugung des eigenen Unglücks anhängen ohne zu wissen, woher diese Überzeugung kommt, ohne zu wissen, was Unglück überhaupt bedeuten soll – war das nicht die reinste Anmaßung?

Vielleicht, so dämmerte Yilmaz plötzlich, war sein ganzes Unglück nichts als Strategie, nichts als eine Rolle, die er so gut spielte, dass er sie sich selber glaubte. Tatsächlich, so seine Überlegung, ging ihm doch das Leben verdächtig leicht von der Hand, vielleicht war es das Mitleid seiner Mitmenschen, die ihm sein Unglück ebenso glaubten, wie er es sich schließlich selber glaubte. Eine Rolle, seit frühester Kindheit einstudiert, die dem Selbst zum verwechseln ähnlich sah.

Mit solchen oder ähnlichen Gedanken verließ Yilmaz heute morgen das Haus am Stadtrand des neunzehnten Wiener Gemeindebezirks, setzte sich in sein Auto und ging zur Arbeit, wie er es jeden Tag tat.

Sonntag, 27. November 2011

Nichtssagendes: Nostalgische Novembernächte

Die Ringstraße ist in Nebel gehüllt. Ein Nebenschleier, denkst du dir, wäre die reinste Untertreibung, eine regelrechte Nebelwand türmt sich auf und aus der Luft leuchten nur vereinzelt die Lichter des Parlaments und Rathauses aus einer tiefschwarzen Nacht heraus. Über dir flattert die Fahne in der Kälte und überhaupt macht es den Eindruck, als würde hier Bedeutendes geschehen. Die Einsamkeit, die sich hier im Stadtzentrum abspielt, ist vermutlich eine weltweit einzigartige, denkst du dir, Wien im Winter, das ist nach wie vor biedermeierlich und biedermeierlich sind in letzter Konsequenz auch die Menschen geblieben. Unverhohlene Opportunisten, ungeniert heutzutage noch dazu, die am Liebsten doch in ihren eigenen 4 Wänden hocken, weil sie alles und jeden kritisieren wollen und perfiderweise sogar müssen, ja sie können gar nicht anders, als immer wieder die Anderen auszurichten und verbal hinzurichten, nur hinter verschlossenen Türen, weil ihnen draußen der kalte Wind in die Gichtfinger zischt.
Aber vielleicht spricht die Frustration aus dir, die Kälte macht auch dir zu schaffen und die Straßenbahn, auf die du schon seit Ewigkeiten wartest - die Zeit wird in der Kälte zu einer höchst relativen Messgröße, sie dehnt sich in der Kälte scheinbar, ganz umgekehrt zur Materie, aus wie ein alter Kaugummi - macht keine Anstalten, dich endlich abzuholen,
Die Misanthropie, der Menschenhass überhaupt, denkst du dir, ist ein städtisches Phänomen. In dem Moment nämlich, in dem du in die Straßenbahn steigst - es ist noch ein altes Modell aus der Zwischenkriegszeit, 1920er Jahre - bemerkst du, dass es doch noch Menschen gibt, auch im winterlichen Wien, dass du sie aber, in den tiefsten Tiefen deines Herzens - Tiefen also, die wesentlich Untiefen sind, wenn man die Schalheit und das Oberflächliche alles scheinbar Tiefgründigen einmal erblickt hat - überhaupt nicht sehen willst, du willst eigentlich überhaupt nichts sehen und wünscht dir eben jene Benebelung herbei, die vorhin gerade das Parlament umrundet hat. Die geistige Umnachtung dieses Parlaments wünscht du dir aber wie alles wirklich Wünschenswerte ist auch dieser Zustand keiner, der sich einfach herstellen ließe sondern im Gegenteil wesentlich ein solcher, der dir passiert.
Auch deine Misanthropie passiert dir, städtischerweise nicht zufällig gerade im November, wo sich plötzlich wieder die existenziellen Abgründe auftun und du dich vor Fragen siehst, die du besser nie gestellt hättest. Nicht ganz ohne Schamgefühl musst du dir eingestehen, dass der Rhytmus der Natur einen beträchtlichen Einschnitt in deine so heiß geliebte Individualität darstellt, dass er es ist, der dich traurig macht, am Anfang des Winters, wie er so viele andere auch traurig macht, von denen du nichts wissen willst, mit denen du aber, wie es scheint, durch ein eigenartiges Band verbunden bist.
Du erinnerst dich an das Landleben, wo es im Herbst keine Straßenbahnen gibt. Höchstens ein Bus alle zwanzig Minuten, das ist eine beinahe reizende Frequenz im Vergleich zum Drei-Minuten-Takt der Großstadt. Im Landherbst warst du auch nicht glücklich, statt der Ringstraßen- bist du eine Seerunde gegangen und hast nicht die Menschen generell, sondern die Landmenschen verflucht, weil du sie alle gekannt hast und prinzipiell noch heute kennst und weil du sie dauernd grüßen hast müssen beim Gehen, weil sie dauernd mit dir reden wollten und du überhaupt nie deine Ruhe hast finden können. Im Endeffekt waren es dort die Bekannten und Verwandten, die du nicht ertragen hast, jetzt aber sind es die Menschen überhaupt, die dich plagen. Was für den Landmenschen die Anonymität ist, denkst du dir, ist für den Stadtmenschen die Einsamkeit.

Plötzlich stehst du am Fuße des Wienerwaldes. Aus einem Stadtheruigen stolpern ein paar Betrunkene heraus und weil du schon einmal hier bist, setzt du dich hinein. Es war nicht dein Ziel, hierher zu kommen. Verträumt wie du bist, hast du das Aussteigen vergessen. Hast dir herbstliche Herbstlichter angeschaut, wie sie aus Fenstern leuchten oder auch aus Straßenlaternen. Sie sind beinahe Selbstzweck, niemand spaziert hier und heute freiwillig und dennoch brennen sie dir, wenn du nur willst.
Im Stadtheurigen, der eigentlich ein normales Wirtshaus ist, bestellst du dir einen Herbstbock und erfreust dich an demselben. Dass dich niemand vermisst, ist dir gleichgültig. Du denkst noch einmal an das Parlament und fragst dich, ob es nicht besser wäre, wenn dort ständig die Novembernacht herrsche, ob die Welt nicht überhaupt ein wenig friedlicher wäre, wenn sie mehr Novembernächte hätte.

Sonntag, 30. Oktober 2011

Hundstage: Eine kleine Kunst des Lebens.

Ein großer Nachteil des städtischen Lebens ist die Menge an Menschen. Der Städter schätzt zwar das Untergehen in der Menge – die Nichtigkeit des Einzelnen, die erst Anonymität erlaubt –, nicht aber und niemals schätzt der Städter die Menge selbst. Paradoxerweise sind solche Menschenmengen damit Fluchtpunkt und Ort der Vermeidung zugleich: einerseits möchte der Einzelne in dieser Menge untergehen, sie wird ihm so zum Fluchtpunkt vor seiner Persönlichkeit, die er hier ungeniert nach außen richten kann, weil sie niemanden kümmert; andererseits aber will niemand wirklich in der Menge untergehen: das ständige Berühren und Berührt-werden, der Körpergeruch der Anderen, die reduzierte Schrittweite, blaue Zehen und dergleichen mehr kann natürlich niemand vernünftigerweise wollen.
Besonders tragisch erleben sich solche Menschenmengen an so genannten Hundstagen, Tagen also, die man gar nicht leben will. Zur Vermeidung von Hundstagen haben sich die Menschen verschiedenste Taktiken zurechtgelegt: manche versuchen, den ganzen Hundstag überhaupt zu verschlafen, andere beginnen früh zu trinken, um dann – frei nach dem Motto „Früh fett – früh im Bett“ – am nächsten Tag ihr Glück zu versuchen, Hundstage sind nämlich tatsächlich temporär begrenzt und von einer tatsächlichen Untragbarkeit des Lebens dadurch unterschieden, dass sie völlig grundlos auf- und abtauchen. Sie bestehen dabei hartnäckig auf ihr Recht, Teil des Lebens zu sein, sind sie zu diesem Recht aber gekommen, verschwinden sie auch wieder. Deshalb ist, wie mir scheint, die erste Variante der Hundstagsvermeidung völliger Unsinn: es wird nämlich, verschläft man den ganzen Hundstag mit voller Absicht, eine Hundsnacht entstehen, oder aber, sollte es tatsächlich gelingen Hundstag und –nacht zu verschlafen, so wird sich das Hundstagige am nächsten Morgen zurückmelden und man wird den verschlafenen Missmut des gestrigen Tages heute umso munterer mit sich herumschleppen. Dazu kommen noch Schuldgefühle, weil der Vortag ohne Tätigkeit verstrichen ist. Jedenfalls lässt sich ein Hundstag nicht einfach verschlafen, unter Umständen lässt er sich aber ein wenig verkürzen. Freilich, ein Ding der Unmöglichkeit ist es, den ganzen Hundstag durch frühes Trinken abzuwehren, weil ansonsten das bereits bekannte Phänomen der Hundstagsverschiebung eintritt. Überhaupt sind Katertage nicht selten Hundstage, und wenn der Hundstag nur dadurch vermieden wird, dass man ihn übertrinkt, kann mit einer beinahe an absolute Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Kater- und Hundstag tags darauf auf- und ineinandergreifen, was nur selten angenehm ist. Deshalb sollte auch die durch Alkohol unterstützte Variante mit zunehmender Vorsicht genossen werden, wie der Alkohol ja mit steigendem Lebensalter – und also steigender Hundstagsanfälligkeit – generell immer mehr mit Vorsicht zu genießen ist. Es kann deshalb löblich sein, sich am späten Nachmittag oder frühen Abend mit einem, oder vielleicht zwei Freunden zu treffen, um gemütlich ein Bier oder ein Gläschen Wein zu trinken, zu vermeiden aber sind jedenfalls Spirituosen aller Art sowie das allzeit lauernde Übermaß.
Nun ist an Hundstagen durchaus auch die Zeit bis zum Spätnachmittag zu überbrücken. Hierfür bietet sich in erster Linie die Ablenkung. Wer sich tagsüber nur mit den Unzulänglichkeiten des Lebens beschäftigt, wird den Hundstag naturgemäß und unnützerweise in die Länge ziehen. Er wird schon beim Zähneputzen die Vergeblichkeit dieses Putzes bejammern, beim Toilettengang den Zwangscharakter der natürlichen Bedingtheit des Menschen bedauern, beim Kochen die Entfremdung des Menschen, der aus Plastik- und Styroporgefäßen Fleischstücke nach Maß ins Teflonpfännchen wirft, bekriteln und schließlich beim einsamen Hineinstopfen des schlecht gekochten und noch schlechter schmeckenden Stücks Tierfleisch die miserable Gesellschaft seines Fernsehers, der ihm nur Dummheiten und allerlei Langweiliges, Schon-da-Gewesenes und Nicht-mehr-weg-zu-Bekommendes vorspielt, beklagen.
Nach diesem Tagesauftakt wird freilich notwendig sein, sich zu zerstreuen, was sich angesichts hartnäckiger Negativität des eigenen Denkens nicht immer einfach gestaltet. Der primär an Hundstagigkeit leidende – der librophile Mensch – wird vom Fernseher zum Buch übergehen müssen, jene, die trotz Hundstagigkeit generell nicht zu Büchern greifen, verfallen gewöhnlich einer stumpfen Dauersendersuche oder bleiben bei einem U-15 Fußballmatch auf Eurosport 3 zwischen Japan und der Mongolei hängen, weil der Kommentator schönes Englisch spricht. Andere Ablenkungstechniken sind in dieser frühen Phase der Hundstagigkeit weitgehend unbekannt, da die weiteren Alternativen – Spaziergang im Freien, Kaffeetrinken im Lieblingskaffee oder Zeitunglesen – einen Gang ins Freie erzwingen, der nur in höchster Not gewagt wird und auf eine tatsächliche Untragbarkeit der konsultierten Bücher und Fernsehsender rückschließen lässt.
Weil aber der sprichwörtliche innere Schweinehund mit der Hundstagigkeit in engster Verbindung steht, muss zur Überwindung zweiterer zunächst einmal ersterer überwunden werden, was dazu führt das unser an Einsamkeit, transzendentaler Obdachlosigkeit und chemischer Disharmonie im Zentralnervensystem leidender Freund für gewöhnlich erst am Nachmittag den Gang ins Freie wählt. Diesem Trivium moderner Traurigkeit auf sozialer Ebene zu begegnen ist für gewöhnlich der erste Schritt: man kocht und gesellt sich zu seinem Freund, dem Fernseher, oder zum noch besseren Freund – dem Laptop (und/oder IPhone, Ipad etc.). Der zweite Schritt ist schließlich der Versuch, dem Trivium auf spritueller Ebene zu begegnen: der Griff zum Buch oder zum U15-Fußballmatch. Da aber an Hundstagen solche Sinnstiftung nicht funktionieren will, muss auf biologischer Ebene gearbeitet werden, weshalb eben der Spaziergang, der Endorphine oder Ähnliches freisetzen will (das sprichwörtliche Hirnlüften scheint mir eine Antizipation dieses Wunsches zu sein), schließlich und endlich doch gewagt wird.
Hier kommt unser traurige Held endlich mit der Masse in Berührung, die er, wie eingangs festgestellt, paradoxerweise will und nicht will zugleich. Er will in ihr Untergehen, fürchtet aber, an ihr zugrunde zu gehen. Plastisch gesprochen ist ja das Untergehen und das Zugrundegehen ein- und derselbe Vorgang, weshalb mit einigem Recht geschlossen werden darf, dass unser Held ein simples Problem des Wollens hat: er will und will zugleich auch nicht. Der philosophische geschulte Leser wird vermutlich einwenden wollen, dass die binäre Logik im echten Leben nur wenig Bedeutung habe. Dennoch scheint das Problem der Hundstagigkeit ein simples Problem binärer Logik zu sein: unser Held will freilich leben, lebt mitunter sogar sehr gern, aber diesen bestimmten Tag will er einfach nicht erleben. Deshalb fühlt sich unser Held einerseits nackt und exponiert, wenn er auf sich alleine gestellt ist, andererseits aber bedrängt und übervorteilt, wenn er tatsächlich ins Leben eintaucht und Teil der Masse wird. Die Hundstagigkeit funktioniert nach einem ähnlichen Strickmuster: wer sich gegen das bereits genannte Trivium zur Wehr setzt wird ebenso scheitern wie der, der resignativ den Hundstag erträgt. Einmal der Diyonisiker, der den Weg des Machens und Tuns einschlägt, einmal der Stoiker, der den Weg des gelassenen Ertragens anstrebt. Man lernt hieraus, dass das Problem der Hundstagigkeit ein unlösbares ist. Es kommt und geht, entsteht und vergeht wie von selbst und wenn schließlich der frühe Abend erreicht ist und sich unser tragische Held endlich mit Gleichgesinnten zu einem Bier trifft – man sollte dringend darauf achten, sich an Hundstagen nur mit Leuten zu treffen, denen es ähnlich ergeht wie Einem selbst – wird der tragische Held schon rasch zum Schwarzhumoriker und Komiker, der bemerkt, dass es Schlimmeres gibt, als einen Hundstag zu haben. Und schon hat er sein Trivium mitsamt seinem inneren Schweinehund und der gesamten Hundstagigkeit überhaupt in die Dunkelheit seines Unbewussten gebannt: die Einsamkeit hat er gegen die Geselligkeit eingetauscht, den Missmut gegen schwarzen Humor, wodurch ihm auch zu dämmern beginnt, das am Ende des Tunnels vielleicht kein Licht mehr leuchtet, wie das noch in früheren Zeiten der Fall zu sein pflegte, dass aber doch, mit ein bisschen Glück und gutem Willen zumindest der Tunnel selbst beleuchtet ist, weshalb auch die transzendente Obdachlosigkeit überdacht werden kann, auch wenn dieses Dach keine ewige Zuflucht im Palast Gottes, sondern nur noch im Zelt weltlicher Freude gewährt (der Mensch ist in dieser Hinsicht ja nicht kleinlich: temporär reicht ihm jeder Sinn, und für gewöhnlich muss er ja auch gar keinen haben, er braucht ihn ja nur in der Hundstagigkeit). Letztendlich ist auch das biochemische Gleichgewicht wieder hergestellt, weil ja auch das Bier die wunderbare Fähigkeit besitzt, Endorphine auszuschütten. Nun sollte unser tragik-komische Held seine Karten gut spielen und weder zu tief ins Glas, noch zu tief in die Nacht hineinschauen. Aber das bleibt wie die Frage nach der Strategie zur Hundstagsbekämpfung, ganz dem Helden selbst überlassen und nicht selten sind ja auch schon die denkwürdigsten Nächte aus Hundstagen entwachsen, Nächte nämlich, die einen Kater- und Hundstag allemal Wert waren…

Montag, 17. Oktober 2011

Kritk ohne Verzicht: Dialektik der Unaufgeklärten.

Als jenes Zentrum des Universums, für das man sich ganz naturgemäß hält, wenn man Bürger einer zentraleuropäischen Sozialdemokratie ist, denke ich mir, dass es kein Zufall sein kann, dass die internationale Protestbewegung gegen Finanzwirtschaft, Kapitalismus und allem, was sonst noch dazu gehört – das sog. „United for global change movement“ – auf den Tag nach meinem Geburtstag fällt: zwei weltpolitische Großereignisse berühren einander ja nicht selten und es ist dabei nur folgerichtig, dass globale Konsumkritik jeweils erst nach meinem Geburtstag einsetzt, denn – so ehrlich muss man sein – wer will denn schon einen konsumkritischen Geburtstag feiern? Zum Abendessen indische Linsensuppe, dazu ein Glas Leitungswasser und als Geschenk ein paar selbstgeschnitzte Holzpantoffeln und einen Jutesack, indem man das nicht vorhandene, weil gar nie gekaufte Zeug, stopfen könnte, wenn man welches hätte und in den man sich, damit er nicht völlig nutzlos ist, letzten Endes selber stopft, weil man nichts verschwenden möchte?


Das ist natürlich völliger Unsinn und keinem Geburtstagsfest zuträglich. Stattdessen lieber ein hemmungsloses Besäufnis, eine regelrechte Biervernichtungsanlage ist meine studentische Bude gewesen, Autobahnen haben sich in die Lungen der Anwesenden hinuntergeteert - ob diese nun Raucher waren oder nicht war bei der Dicke der Luft auch schon egal, letztlich hat man neben Suchtgiften wie Alkohol, Nikotin, fettem und zuckerhaltigem Essen auch noch kostbare Lebenszeit verschwendet: weder auf den Alterungsprozess, noch die Produktivität der nächsten Tage dürfte sich beschriebenes Gelage positiv ausgewirkt haben.


Am 15. Oktober aber schließlich die große Ernüchterung und der Schwur gegen sich selbst – was für ein Tier, der Mensch, dass er sich selbst schwören kann und dann auch noch die Frechheit besitzt, selbst diesen heiligsten Schwur zu brechen (ein Wunder, dass er es überhaupt kann, dieser Mensch!) - : Zeit zum Verzichten. Man habe in den letzten Tagen genug gesoffen, hört man es im Kopf, genug geraucht, sagt einem das eigene Hirn, genug Mist in sich hineingeschaufelt, grunzt der Bauch, der, etwas wanstiger als sonst, dennoch nichts von seiner Gemütlichkeit verloren hat und sich das Prädikat Wohlstandsbäuchlein redlich verdient hat. Alles in allem hat man genug, es reicht, was ja auch nur folgerichtig ist, schließlich hat man sich ja fleißig angereichert.
Plötzlich meldet sich also die Vernunft zurück, kurzzeitig hat man sie vergessen und ganz mutwillig ausgeschalten, aber jetzt hört man ihre Gebote wieder. Tausend Dinge sollte man machen, dabei klebt man im Bett wie ein alter Kaugummi – Geworfenheit kommt einem in den Sinn, ob er das gemeint hat, der Heidegger? Warum hat er nicht Geklebtheit geschrieben? Oder Ausgespucktheit? Nun, wie so vieles wird auch das unergründlich bleiben.


Vernünftig jedenfalls steht man auf und geht spazieren, weil man einen klaren Kopf bekommen will und den Dunst in der Wohnung nicht mehr aushält. Eigentlich, sieht man schließlich ein, will man nichts weniger als einen klaren Kopf und es ist de facto der Dunst, der einen ins Freie treibt. Trotzdem lichtet sich der geistige Nebel unaufhaltsam und in jedem Fall spaziert man, ganz ungeklebt aber nicht gleich ungeworfen, und findet sich am Heldenplatz, wo schon wieder Unvernunft herrscht.


Tatsächlich ist auch das kein Zufall: wenn zwei weltpolitische Großereignisse aufeinander treffen, ist natürlich meist nur eines im Zeichen der Vernunft aufgetreten. Ein Beispiel: Er herrscht dreißig Jahre Religionskrieg in Europa (Unvernunft), bis 1648 endlich jemand – Ferdinand III. – Religionsduldung herstellte (Vernunft). Oder: Bis George W. Bush durch Barack Obama abgelöst wurde, herrschte in den USA die Unvernunft. Wenn Obama schließlich abdankt, wird wieder die Unvernunft geherrscht haben und eine neue Vernunft herrschen, bis sie unvernünftig geworden ist.


Jedenfalls treffe auch ich als Inbegriff des Vernünftigen auf die versammelte Unvernunft, die ‚protestierend‘ am Heldenplatz herumlungert. Zunächst sehe ich einen Redekreis, indem ein jeder dem anderen für seine Anwesenheit dankt, auf die ‚positive Stimmung‘, den ‚epochemachenden Vibe‘ oder den ‚weltgeistlichen Willen selbst‘ aufmerksam macht und dabei in einer andächtigen Haltung in den blauen Himmel starrt. Revolutionär ist das nicht, denke ich, eher noch religiös.


Schließlich treffen auch die Kampfwagen vom Westbahnhof ein: riesige Boxentürme blasen Drum’n’Base durch den ehrwürdigen Platz: wäre der Erzherzog Karl, dem mittlerweile eine Fahne der Piratenpartei in die Hand gesteckt wurde, nicht in Blei gegossen, würde er davon reiten. Bierdosen kugeln ebenso herum wie die Trinkenden, die mehr nach Freizeitdemonstranten aussehen als nach politisch Oppositionellen, die ernsthafte Angelegenheiten verfolgen. Nun, warum nicht den globalen Kampf feiern, wenn man ihn schon verlieren wird, denke ich mir und schlendere heimwärts. Ich weiß nicht, was deprimierender ist: der Umstand, dass eine kritische Protestbewegung selbst die Form jener Eventkultur hat, die dadurch angeprangert wird, oder aber dass diese Protestbewegung ohnehin versanden wird.


In Internetforen liest man davon, dass alle mündigen und kritischen Bürger Teil dieser Bewegung sein sollten, ja gar müssten, wenn sie eine lebenswerte Zukunft für die kommenden Generationen schaffen wollten. Aber was heißt hier mündig, was kritisch? Mündig erscheint jedenfalls kein betrunkener, tanzender Antifa-Kommunist, auch wenn er noch so viel Marx gelesen hat (was ja nicht der Fall sein wird). Und das Kritische ist selbst nicht mehr als eine leere Phrase, ein Hohlraum vergangener Homogenität. Natürlich wusste man vor 60 Jahren, was der Kritik würdig war, welche Blickwinkel der richtige war. Aber im modernen Pluralismus ist eigentlich nichts – im negativen Sinne – ‚kritischer‘, und das meint ungangssprachlich 'gefährlicher', als ein klar definierter Standpunkt, weil dieser nur dogmatisch sein kann. Die Philosophen nennen das ‚Die Grundlosigkeit der Moderne‘ was zwar pathetisch klingt, aber zumindest diagnostisch nicht ganz unrichtig zu sein scheint. Aber wen interessieren schon Philosophen, wenn man auf dem Heldenplatz feiern kann? Wen interessiert denn schon globale Gerechtigkeit, wenn er ein paar Bier intus hat, ist ohnehin alles harmonisch. Am nächsten Tag werden sie von der Magie des Tages sprechen, aber sie werden nicht mehr wissen, ob wirklich der Moment ein magischer war, oder ob der Alkohol zu verzaubern mag, was ansonsten gleichgültig erscheint.


Kapitalismuskritik jedenfalls, die nicht verzichtet, ist de facto Unsinn. Es geht dabei nämlich nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Befriedigung des eigenen Wollens. Kapitalismuskritik ist hier keine Kritik an Überfluss, Überproduktion und Ausbeutung, sondern ein Ausdruck derer, die meinen, zu wenig von diesem Überfluss zu haben, ist damit, de facto, die Gier derer, die sich als Verlierer der Gesellschaft betrachten. Das ist freilich legitim, allerdings ist es nicht weniger heuchlerisch als jenes Establishment, auf das sich das Gegröle der Demonstranten bezieht.
Aber ebenso wie ich wird auch diese Bewegung ein Jahr älter werden, und wer weiß, vielleicht wird sie auch reifen. Aristoteles meinte einmal, es sei einem breiten Mittelstand vorbehalten, sittliche Reife und politische Tugend auszubilden. Menschen, die zu reich sind, würden böse im Großen, arrogant und herrschsüchtig. Existenziell bedrohte Menschen, die mit der Armut kämpfen, würden hingegen hinterlistig und gemein im Kleinen, egoistisch und ohne jeden Großmut. Nun, ich glaube, Aristoteles hatte unrecht: sittliche Reife und politische Tugend habe ich nämlich nirgends gesehen. Nur einen, im wahrsten Sinne des Wortes, „breiten“ Mittelstand.

Freitag, 14. Oktober 2011

Ein Vergang

Verluste, die du nicht machen kannst
und dennoch schmerzen sie:
Ein Untergang, der du selber bist

Was dir fehlt kannst du nur suchen
aber finden kannst du nicht,
finden kannst du nicht.

Was willst du denn noch wissen?
Wissen wollte sich noch keiner
Es ist ein Unglück, dass wir wissen können

Mehr noch: wissen müssen
wenn wir klar sehen, sehen wir Verfall
Ein Einbruch in die Stille, dieses Leben

Gewaltlos ist noch nichts gewesen
was aus dieser Stille kommt
kommt immer schreiend

Leben, das ist Lärm
ein Streifen, in die Stille geschrien
ganz echolos verhallst du

dereinst, dereinst
nicht heute
heute feierst du.

Dienstag, 11. Oktober 2011

Der Holger und das Landei

Der Holger hat sich sein Denkergesicht aufgesetzt: es steht ihm gar nicht schlecht, dieses ernste, denkerisch zerfurchte Gesicht, das ein wenig Tristesse ausstrahlt, ein wenig intellektuell versalzenen Pessimismus, dazu das relativierende Getue, das so ganz im Gegensatz zu seiner denkerischen Tiefe steht, dieses gar aufhebt und ins Unernste verkehrt. Schmäh hat er freilich noch lange nicht, aber zumindest ein bisschen Weltschmerz – genug, um dem Mädchen, das ihm gegenübersitzt, eine Nacht lang vorzugaukeln, dass er etwas Besonderes ist, denn das wollen ja alle, nicht nur die Mädchen: einmal einen besonderen Menschen kennenlernen, einmal etwas Spezielles tun, einmal die Zeit übergehen und Bleibendes erleben.
Auch das Mädchen bleibt ihrer Rolle treu: sie gibt das naive, junge Ding. Gerade inskribiert und schon in ein geistiges Gespräch vertieft, das sie weder verstehen noch interessieren muss, das ihr aber sehr wohl die erste studentische Affäre einhandeln könnte – eine Eigenschaft, die sie mit dem Holger teilt. Dieser ist sichtlich nervös und stürzt sich die Biere und den philosophierenden Schädel hinein: Öl für einen stotternden Motor, der über den ersten Gang noch nicht hinausgekommen ist und dennoch bald überhitzen wird. Das naive Mädchen bemerkt diese Nervosität nicht, wohl aber den übermäßigen ‚Zug‘, wie sie es nennt, den der Holger ‚draufhat‘. Also ein Landei auch noch, denke ich vergnügt und frage mich, ob ihre Naivität vielleicht mehr Resultat ihres Naturells als ihrer Rolle ist. Ich für meinen Teil bin ja nicht weniger deplatziert, als es der Holger ist, sage ich zum Kepler, meinen immer treuen Biergenossen, der mich gleich bemerkt und also weiß, was ich meine. Auch er fühle sich hier schon zu alt, aber das Bier sei billig und werde nicht schlechter mit den Jahren. Er hat wie immer Recht.
Während wir gemütlich vor uns hin trinken, zerrinnt dem Holger langsam seine Denkerstirn: das Glänzen seiner erkenntnisgeilen Augen weicht langsam aber sicher einer glänzenden Stirn, die auch dem Mädchen nicht verborgen bleibt. Seine gefasste Haltung schlägt um in grimassiöse Gesichtsausdrücke, während sich seine Hände Entgleisungen aller Art erlauben. Ob diese Schiene der Entgleisung dem Mädchen gefallen wird, sage ich zum Kepler, wird nicht wenig davon abhängen, ob auch ihr Kopf schon eingeweicht ist, oder nicht. Sie selbst scheint unsicher zu sein, lässt sich aber den Körperkontakt zunächst gefallen, was zwar nicht verwunderlich, aber auch nicht gerade Schmackhaftes erahnen lässt. Der Holger, soviel ist jedenfalls klar, hat einen Gang raufgeschalten, fährt aber immer noch sehr hochtourig. Er erklärt dem Mädchen mittlerweile, dass jede Minute des Daseins in einem gewissen Sinn als Gabe, als Gegebenes verstanden werden könne, und dass selbst das schlimmste Unglück in einem eigenartigen Sinn noch ein gewährtes Unglück sei: Der Weltschmerz hat ihn naturgemäß verlassen, er sieht seine Existenz plötzlich als Chance, die er nicht verpassen darf. Dass der Alkohol aus ihm spricht, kommt ihm wohl nicht mehr in den Sinn, dafür aber umso mehr die Einsicht, dass die Chance, die ihm das Schicksal hier offeriert, eine einmalige sei und also der Nützung bedürfe. „Bergauf beschleunigen“, denkt sich der Holger, und will dem Landei einen Kuss auf den Mund drücken. Dabei packt er sich, etwas ungestüm an den Ohren, ganz so, als dürfe sie die Musik im Hintergrund in diesem einen, speziellen Moment nicht hören, sondern lediglich das Rauschen seines in Wallung geratenen Blutes. Kräftig zieht er sie sich entgegen – er hat wohl einmal gelesen, dass das wichtigste im Umgang mit Freuen Selbstbewusstsein und Entschlossenheit seien, und selbstbewusst und entschlossen wird er in diesem Moment durchaus einmal gewesen sein – und spitzt die Lippen so, als wollte er den Kant zitieren, zu einem Trichter zusammen, aus dem der Weltgeist selbst herausflüstert. Dieser so bemüht zärtliche Akt menschlicher Zuneigung wird dabei zu einem krampfhaften Gewaltakt, dessen Durchführung erst durch eine Bierdose verhindert wird, die dem Holger in den Schoß fällt. Das Mädchen, unsicher nach wie vor, ob sie sich freuen soll, dem Kuss entronnen zu sein, oder doch traurig darüber sein sollte, dass die erste Studentenaffäre ins Gerstenwasser gefallen ist, jedenfalls springt auf und marschiert aus dem Raum.
Da sitzt er jetzt, der Holger, mit nassen Hosen und rotem Kopf. Er tut einem natürlich ein bisschen Leid, jetzt, wo er seinen Optimismus wieder eingetauscht hat gegen die Denkerstirn. Versteinert, wie in Bronze gehauen sitzt er da, eine Persiflage auf den Rhodinschen Denker, weil er ja keine heroische Gestalt ist, unser Holger. Aus Mitleid bringe ich ihm ein Bier, dazu ein Vodka-Stamperl und versuche, ihn aufzumuntern. Er allerdings winkt mir abweisend entgegen: dieses Teufelszeug wolle er nicht mehr, er habe ihm abgeschworen und außerdem müsse er morgen wieder lesen und lernen. Er sei naiv gewesen, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen und zu glauben, er könne Spaß haben so wie andere Menschen auch. Er reicht mir die Hand und geht.
Traurig blicke ich dem Holger nach, hätte er doch endlich Fortschritte gemacht, aber so ist wohl auch dieser Zug wieder abgefahren auf jenen Schienen, auf denen er so zukunftsweisend dahergekommen war, so hat er sich doch noch überhitzt, der gute alte Holger, der jetzt meinen wird, ihm habe das Schicksal einen Streich gespielt, wo er doch einfach nur Pech gehabt hat: aber das kann er nicht akzeptieren, der alte Philosoph, diesen unglücklichen Zufall muss er deuten, weil er den Sinn im Unsinn braucht.

Freitag, 7. Oktober 2011

Kleine Schule des Lebens oder wie man einen Zeitpunkt markiert

Wie du ihn schmeckst, den kalten Regen
Stättern, grau, verschmutzt -
du blinzelst ihm entgegen.

Lächerlich, heute noch zu fragen
vorbei die Zeit der Geister
und doch:
du weißt, er will dir etwas sagen.

Ein Tropfen Wein auf deiner Zunge
Rötlich eingefärbt, vom Wein benetzt
und auch vom Rauch, der aufstößt aus der Lunge

Dein Blut in Wallung, rot die Lippen wie der Wein
verrauchte Stimme, gegenwärtig sein.

Du merkst dich nicht, bist ganz zum Blick geworden
Nur nebensächlich leuchten noch die alten Fragen
in deinem schweren Kopf, der heute, weit vom überborden

Frei und leicht sich selbst vergisst
und hindurch, zwischen den Gittern unserer Sprache
gemeinsam mit dem Jetzt verfließt.

Freitag, 16. September 2011

Philosophisches, Allzuphilosophisches: Ein politischer Rundgang.

Etwas aus der so genannten philosophischen Perspektive zu betrachten ist immer eine zweifelhafte Sache: was ist eine philosophische Perspektive, sollte sie nicht ohnehin objektiv – d.i. eben nicht perspektivisch sein, und überhaupt: warum muss man irgendetwas philosophisch betrachten, wenn doch bis heute keiner weiß, was die Philosophie eigentlich ist?
Nun, in einen Fakultäten- oder Definitionsstreit will man sich bekanntlich nicht versticken, schon gar nicht in einen philosophischen, deshalb soll hier die Alltagsbedeutung des Philosophiebegriffs ausreichen und damit ist, naturgemäß, nicht viel mehr gemeint, als ein wenig geistesgeschichtliche Bildung mit dem Hang, die Welt als Gesamtheit des Seienden zu interpretieren, ihr also sogenannte Weltbilder unterzujubeln und anderen Menschen zu erklären, warum das ihrige Weltbild falsch, das eigene Weltbild aber, ipso facto, das richtige ist. Kurz: es geht darum, die Welt auf eine möglichst schlaue Art und Weise auszulegen. Aber halt!
Machen gerade das nicht auch Menschen, die sich einer anderen Profession verschreien? Selbstverständlich. Ganz besonders tun sich in dieser Hinsicht immer wieder Politiker heraus, die meinen, sie wüssten, was die Nation, das Volk, die Rasse, die Welt oder gar das gesamte Universum nötig hätten. Unlängst beispielsweise wird vermehrt der Leistungsbegriff stark gemacht. So postulieren manche, dass es heutzutage nötig sei, endlich wieder Leistung zu bringen. Dem liegt freilich mehr zugrunde als eine bloße Binsenweisheit: Leute, die eine solche Überzeugung äußern glauben – zumindest normalerweise – selbstverständlich, was sie sagen. Üblicherweise ist ihre Weltinterpretation sehr schwarzmalerisch, weshalb sie politisch nicht nur als schwarz bezeichnet werden, sondern faktisch auch noch aus dem bäuerlich-konservativen Lager stammen, das vor allem im deutschsprachigen Raum für seinen Optimismus nun wirklich nicht bekannt ist. Kein Wunder also, dass solche Leute auf Leistung pochen, droht doch der sonstige Totalkollaps den wir uns, soviel muss nun selbst der Blindeste unter den Sehenden – der Christdemokrat, der sich irgendwie auch zu den Schwarzen verirrt hat – zugestehen, einfach nicht leisten können.
Aber hier liegt freilich Interpretation zugrunde und wer am Fundament rüttelt, bringt meist mehr als dieses zum Wanken. Wer sagt denn bitte, dass die Welt – mit Kant gesprochen (der im Übrigen wohl heute auch ein Schwarzer wäre) – tatsächlich im Argen liegt? Nun gut: Schuldenkrise, die politische Krise im mittleren Osten, die Hungerkrise in Ostafrika – all das spricht freilich dafür, aber wusste nicht schon der alte Kant selbst, dass die Welt schon im Argen lag, bevor wir uns darüber Gedanken machten? Ist der Umstand, dass die Welt eine krisenhafte ist, nicht eines der geistesgeschichtlichen Fakten per se? Pessimismus jedenfalls ist kein Phänomen der Moderne und auch kein Phänomen westlicher Tradition – lediglich die Auflehnung gegen denselben ist westlich. Eine solche Form der Auflehnung ist eben die Leistung. Wem es nicht gut geht, der leistet etwas in der Hoffnung, dass die Zukunft besser wird. Diese Überlegung liegt – im Gegensatz zu östlichen Denktraditionen – beinahe jeder westlichen Geisteshaltung zugrunde: das Christentum vertröstet mit dem Jenseits, der Kommunismus mit der klassenlosen Gesellschaft, die Aufklärung mit der Freiheit des Individuums. Für diese vertagte Befreiung muss der westliche Mensch in jeder Hinsicht irgendetwas leisten, wohingegen sein östlicher Leidesgenosse genau dieses Prinzip – eben dass er irgendetwas muss, soll oder will – verneint. Freilich finden solche Gedanken auch bei uns im Westen eingang, aber meistens bei so genannten akademischen Aussenseitern. Schopenhauer war einer davon, Spinozza ein anderer. Aber wir interpretieren hier zu viel, zurück zum zoon politikon.
Bekanntermaßen gibt es hierzulande nicht nur Schwarzmaler. Es gibt auch ausgesprochene Optimisten. Sie glauben meistens, dass der böse Markt es ist, der den Menschen böse macht: man sehe und staune also, auch sie haben, entgegen jeder Erwartung, ein argumentatorisches Fundament – auch wenn fraglich ist, ob es auch tatsächlich imstande ist, etwas zu tragen. Nun gut, wir wollen hier nicht werten, sondern entwerten. In jedem Fall sind solche, die meinen, dass der Mensch ein prinzipiell gutes Wesen sei, das nur aufgrund seiner Lebensumstände dazu gedrängt wird, böse zu sein, meistens Leute, die sich selbst als alternativ bezeichnen und Gedankenströmungen zuneigen, die im „Off-the-beaten-track“ Denken mainstream sind; sie gehen eigenartige Denkwege, aber inhaltlich bleiben sie freilich auch einem Konsens verpflichtet. Sie glauben meistens, die Wahrheit über unsere Gesellschaftszusammenhänge herausgefunden zu haben und darüber hinaus, dass alle anderen eben diese Wahrheit nicht erkennen können, was sie in ihren eigenen Köpfen intellektuell überlegen macht. Dabei wollen sie intelektuell aber nur wirken, sie wollen es nicht tatsächlich sein, weil das wiederum gesellschaftlich akzeptiert und damit nicht alternativ wäre. Sie sind gerade deshalb - eben weil sie glauben, es gäbe etwas, dass tatsächlich anders, also alternativ, sei - nicht selten grün hinter den Ohren und versuchen, die Welt nicht bloß zu interpretieren, sondern sie auch zur verändern: sie werden aus ideologischen Gründen arbeitslos oder weigern sich, sich zu waschen. Sie unterlaufen aus ideologischen Gründen den Konsens einer liberalen Gesellschaft und verachten die so genannten Konformisten ohne zu sehen, dass es erst diese Liberalität ist, die ihnen ihr verhalten überhaupt zubilligt. Aber auch das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls liegt auch hier Interpretation dem Verhalten zugrunde, auch wenn sie hier nicht zu einem praktischen Mehr an Leistung, sondern umgekehrt zur praktisch philosophischen Überzeugung führt, dass die Leistung selbst der Schundhund unseres gehetzten Menschsseins darstelle und insofern endgültig abgeschafft werden müsse.
Es gibt auch eine Zwischenstufe im politischen Österreich. Sie ist zwar nicht primär auf Leistung aus, allerdings darf sie sich realitätsnäher als die äußere Linke titulieren, ist sie doch schon seit Jahrzehnten ein Teil der politischen Landesführung und ergo nicht mehr ganz so grün hinter den Ohren. Aber auch hier herrschen Prinzipien, nämlich sozialdemokratische Prinzipien, vor. Diese herrschen selbst dann, wenn im Innenverhältnis nur eine Gegenleistung interessant erscheint, weil im Außenverhältnis ohnehin keine erkennbare Leistung erbracht wurde. Sehr sozial ist so eine Leistung, die letztendlich eine Schenkung an das eigene Selbst darstellt, nämlich nicht: die Schamesröte, die dann einem so genannten Kanzler im Gesicht steht, wenn er plötzlich des Betruges bezichtigt wird, deckt sich vortrefflich mit Krawatte und Parteifarbe, eine Ironie, die sich selbst das allzu schweigsam Schicksal nicht nehmen lässt. Abgesehen von einer gewissen Selbstzufriedenheit ist über die sogenannten Roten eigentlich nicht viel zu sagen, weil ihr politisches Programm der letzten Jahre eigentlich die Unauffälligkeit war, ein Programm, das angesichts der skandalösen politischen Umstände im Land eigentlich kein schlechtes ist.
Besseres liefert da nur noch ein gewisser Zahntechniker, dessen blitzblanke Zähne jenes Saubermann-Image liefern, von dem andere nur träumen können. Nur gut, dass er kein Doktor ist, der HC, sonst wäre er noch einer der ehrbaren Sache, der honoris causa eben, und das wäre dann zwar schicksalsironisch, aber zugleich mehr als zynisch. Wie dem auch sei, der HC funktioniert. Auch er legt einen argumentatorischen Grundstein, von dem aus er interpretiert, und er hat sich dabei auf einen echten Klassiker demagogischer Überredungskunst verlassen: den Sündenbock. Vor dem Sündenbockargument haben sich schon die griechischen Sophisten gefürchtet und deshalb den Grundsatz aufgestellt, dass ein wahrer Redner nicht nur eine pathetische Wirkung (Pathos) auf das Publikum, sondern darüber hinaus auch eine innere Einstellung – den Ethos – erreichen solle, die vor unehrenhaftem Verhalten schützt. Dieser Ethos ist uns heute leider nur im Ethikbegriff, nicht aber in der modernen Rhetorik, erhalten blieben, weshalb heute eine jeder palavert, wie ihm der Mund gewachsen ist - Beim Strache eben groß und weiß strahlend. Er ist zwar furchtbar blauäugig – nicht nur intelektuell, sondern auch faktisch – , aber leider teilt er diese Eigenschaft mit vielen seiner Wähler. Wenn er zum Beispiel feststellt, dass die islamische Gefahr unsere Leitkultur unterwandere, glauben ihm das die Leute und sogar Politiker anderer Parteien, sodass sich die islamische Gefahr plötzlich verselbstständigt und zu einem politischen Fakt wird. Das Argument jedenfalls, das behauptet, dass der Islam die westliche Leitkultur in Österreich – eine Leitkultur übrigens, deren Essenz nicht wirklich klar ist – unterwandere, ist ein in jeder Hinsicht schwach. Überhaupt ist diese Leitkultur nämlich verfassungsrechtlich vom Liberalismus getragen, der die unveräußerbaren Rechte des Eigentums, des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit grundsätzlich normiert. Darüber hinaus ist diese Leitkultur vom Humanismus – also jener Strömung, die als Grundlage der Menschenrechte und damit auch dem Recht auf freie Religionsausübung – geprägt, weshalb eine Unterwanderung der Leitkultur letztendlich nicht durch den Islam, sondern im Gegenteil durch ein Verbot islamischer Religionsausübung zustande käme. Insofern sind es die Blauäugigen selbst, die hier die eigene Tradition verraten, wenn schon zu solch pathetischen Mitteln gegriffen werden muss. Wenn man schon stolz auf eine Leitkultur sein möchte, dann doch auf die richtige: maßgebend ist hier und heute schlicht und einfach ein liberaler Humanismus und ein Religionsverbot wäre meinetwegen alles, aber humanistisch oder liberal wäre es bestimmt nicht.

Freilich: die hier angestellten Überlegungen sind abstrakter und theoretischer Natur. Auch sie haben ein Fundament – eben eine philosophische Perspektive. Ob sich, de facto, die Weltwirtschaft durch vermehrte Leistungen stabilisieren wird, ob wir einem falschen System nachrennen oder ob wir letzten Endes realpolitisch ein so genanntes Ausländerproblem haben, soll damit gar nicht beantwortet oder berührt werden.
Aber Politik ist eben doch mehr Philosophie, als den Meisten lieb ist. Nur gut, dass heute weder Politik, noch Philosophie etwas zu sagen haben. Bei Fragen also wenden Sie sich, liebe Leser, an Wirtschaft und Wissenschaft! Als Philosoph jedenfalls dient man heute der Unterhaltung, ein Kasperl mit Rauschebart eben, ähnlich dem Weihnachtsmann, nur ohne Geschenke.

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